Joachim Biener (Leipzig)
Robert Minder, die Expressionisten und Theodor Fontane
.„Dichter in der Gesellschaft“ gehört zu den seltenen Büchern, die einem den ganzen Tagesplan durcheinanderbringen können. Kaum hat man es aufgeschlagen, da ist man schon gepackt und bemerkt nicht, wie die Zeit vergeht und was man inzwischen versäumt.“ 1 Robert Minders „Erfahrungen mit deutscher und französischer Literatur“ liegen seit 1972 auch als Suhrkamp-Taschenbuch 2 vor. Minder, der von Albert Schweizer in Musik und Philosophie unterricht wurde und der bereits 1923 als Student einen Verständigungsbund mit deutschen Schriftstellern gründete, gehört wie Pierre Berteaux und Pierre Sagave auf französischer Seite und Werner Krauß und Hans Mayer auf deutscher Seite zu den bedeutendsten Mittlern deutscher und französischer Literatur.
Bereits am Beginn des Vorwortes ist von Fontane die Rede: „Das Wort des Dichters bleibt auch für dieses Buch ein Ausgangspunkt. Dreißig Zeilen Fontane genügen, um den besonderen Tonfall, die unverwechselbare Fon- tanesche Linienführung zu erkennen, von dieser Keimzelle aus Rückschlüsse auf den Menschen in seiner besonderen historischen Situation zu ziehen und — immer vom Stil her — die Brücke zu Dichtern einer anderen Zeit zu schlagen ... “ 3 Der Eingang verweist damit auf den Essay „Uber eine Randfigur bei Fontane“, der mit der Überschrift „Schein und Sein bei Theodor Fontane“ in den Grundzügen bereits 1957 in der Festschrift für Eduard Spranger 4 unter den Beiträgen, die dem Thema „Geist und Form“ gewidmet sind, enthalten ist. Er wurde später erweitert und wird für den Fontane-Freund auch heute zur teils anregungsreichen, teils provozierenden Lektüre. Wie Minder in seinem Brecht-Essay von der „Unwürdigen Greisin“ als Symbol für Brechts Absage an die Bourgeoisie ausgeht und zu ihr zurückkehrt, so legt er seinem Fontane-Essay die Schickedanz- Episode aus dem „Stechlin“ zugrunde, um von hier aus unter Aufbietung zum Teil überraschender literaturgeschichtlicher Bezüge die Frage nach Eigenart und Stärke von Fontanes Dichtertum aufzuwerfen.
Die Episode vom sterbenden ehemaligen Hagelversicherungssekretär, der durch den nahen Tod in Sinn und Form seiner Rede verwesentlicht wird und im gesprochenen Vermächtnis an seine Frau zu bemerkenswerten Einsichten gelangt, zum Beispiel in die Negativität von Nur-Reichtum und Personenkult, die sich jedoch nach seinem Ableben bei „Riekchen“ gerade in dem von ihm verabscheuten Hausbesitzerdünkel äußern, wird im Hinblick auf Detail wie Ganzes interpretatorisch voll ausgeschöpft. Die Szene erweist sich als repräsentativ in inhaltlicher wie in gestalterisch-stilistischer Hinsicht. Motivisch-gehaltliche Signifikanz ergibt sich — nach Minder — zum Beispiel aus der maßvollen, im Vergleich zu Jens Peter Jacobsen und Thomas Mann noch nicht monumentalen Verwendung des Todesmotivs, aus dem leisen Sterben, aus dem relativ soliden, festen Menschentum des hinscheidenden Schickedanz, der noch im Testament Schullehrerleistung respektiert, und aus der Absage an existenzielle Scheinhaftigkeit des kulturlosen Parvenüs. Gestalterische Eigenarten werden gesehen in der
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