Heft 
(1981) 32
Seite
736
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Lyrik ist auf den gleichen Ton abgestimmt wie die seines Vorgängers... Bei aller inhaltlichen Tangierung frappiert der Unterschied im Niveau. Gegenüber der gespeicherten Energie von Benns Lyrik wirken die Verse Fontanes etwas simpel und fahrig.. .9 Eher als Gottfried Benn hätte sich im Falle der Lyrik Alfred Kerr als Vergleichsobjekt angeboten, der als Theaterkritiker und als Lyriker von Theodor Fontane ausging und im französischen Exil zu bemerkenswerter Alterslyrik gelangte.

Auf den letzten Seiten des Essays wird Fontanes Dichtertum vom kritisch­realistischen europäischen Roman des 19. Jahrhunderts abgegrenzt:Sei­nem Tonus und der Anlage nach war er ... so wenig wie Keller, Storni, Raabe und selbst C. F. Meyer zur dramatisch-visionären Gestaltung seiner Epoche im Sinn von Balzac, Dickens, Tolstoj oder gar Dostojewski und Zola geschaffen (S. 171). Mit Anton Tschechow verwandteatmosphärische Eindringlichkeit (S. 171) bei der Darstellung des untergehenden Adels wird ihm freilich zugebilligt.

In den letzten Sätzen kehrt dieStechlin-Episode wieder, von der Minder ausgegangen war. Schickedanz Warnung vor parvenuhaftem, kulturlosem Nur-Reichtum wird am Schluß gegen die neuen gründerzeitlichen Tenden­zen unter dem Adenauer-Regime aktualisiert.

Das Aufdecken vergessener Gegnerschaften und verborgener Affinitäten mag besonders für den über jeden provinziellen oder gar nationalistischen Verdacht erhabenen französischen Komparatisten reizvoll sein, zumal es durch das Aufspüren gleichsam unterirdischer Ströme der Verfeinerung des nationalliterarischen Bildes dient. Es mag auch durch Publikationen Benns und Döblins in den 50er Jahren veranlaßt sein. 1956 erschienen sowohl dieGesammelten Gedichte Benns als auch Döblins Hamlet- Roman, dieser übrigens bei Rütten und Loening in der DDR. Im Falle Döblins kommt jahrelange Freundschaft zwischen dem französischen humanistischen Literaturwissenschaftler und dem emigrierten antifaschisti­schen deutschen Schriftsteller hinzu. Die Bezugnahme auf Modernisten hat aber, abgesehen davon, daß unser Benn-Bild möglicherweise der Differen­zierung bedarf, Verwirrendes an sich. Grenzen zwischen Realismus auf der einen Seite und Modernismus und Pseudorealismus auf der anderen Seite werden verwischt. Auf einen m. E. unscharfen Realismus-Begriff deuten auch die leise Abhebung C. F. Meyers, die Zuordnung Zolas und Dickens zu Balzac, Dostojewski und Leo Tolstoi und der Verweis auf dentiefer wühlenden Heinri,, von Kleist (S. 166) hin. So virtuos-unscheinbar das Mörike-Bildherbstkräftig die gedämpfte Welt (auf S. 160) in die Szenen­analyse einfließt -, objektiv rückt dadurch selbst der späte Fontane in die Nähe des sog.poetischen Realismus. Trotz dieser theoretischen Grenzen, welche die volle Würdigung der kritisch-realistischen Leistung Fontanes in der Einheit von Desillusionierung und Antizipation zu beeinträchtigen drohen, liegt, auf der Grundlage vor allem von Sensibilität und tiefer Literaturerfahrung, eine in Inhalt und Form originelle, den Leser berei­chernde Fontane-Studie vor.