„irrealer Besitzergreifung der Realität“ (S. 25) geführt, zu Versuchen und Erfindungen im Balladengenre und mit einem Mythos legendärer Preußentugenden angesichts kritikwürdiger Züge der Gegenwart. Zwangsläufig habe ihn diese Richtung in neue Widersprüche führen müssen, da die mißbilligte Umwelt so nicht zu verklären war. „Es ist die Annahme einer Niederlage-Haltung bereits vor der Revolution von 1848.“ (S. 27). Hier nun hätte sich in der Tat die historische Problematik des bürgerlichen Liberalismus für B. angeboten (vgl. „Der liberale Roman und der preußische Verfassungskonflikt, Analyse — Skizzen und Materialien“, hg. v. B. Peschken u. C. D. Krohn, Stuttgart 1976). Aber Verf. sieht in diesem Essay doch vorwiegend mit der Optik seines Gegenstandes. 1848 sei die Wirklichkeit noch einmal Fontanes Hoffnungen entgegengekommen (3. Phase). Aber sein revolutionärer Pamphletismus habe ein ebenso lächerliches wie bestürzendes Ende gefunden (nach 1850). Mythos und Kritik hätten für lange Zeit nebeneinander bestanden, um schließlich eine neue Art ethischen Realismus auszubilden. Ehe aber F. „Von der Entsagung zur Lossagung“ (nach 48/49) geschritten sei, sei die Erneuerung der preußischen Legende versucht worden. Uber die wiederentdeckte Romantik („Altromantik“), über Scott und Alexis führe dieser Weg zu den „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“. Darin ständen sich Mythos und Kritik mit sich verschiebenden Proportionen gegenüber: „konservative Frömmigkeit“ (S. 43 f.) und betonter Tatsachenstil, ein Gemisch aus Ehrfurcht und Kritik, das die Ansätze zum Roman bereits offenbare.
Die Reichsgründung habe F. entscheidend desillusioniert: Neue Zeiterfahrung habe nun die Zerstörung der mythischen Idee befördert, nicht zuletzt durch die Eroberung neuer Sujets aus dem Alltag. Die psychologische Durchdrignung menschlicher Beziehungen habe neue Gesellschaftsanalyse mit sich gebracht, kritische Momente hätten sich bei der Gestaltung in den Vordergrund gedrängt — ohne daß der Hang zur „Nostalgie“ ganz verschwunden sei. Leises Bedauern darüber habe den ganzen Weg des Romanciers begleitet.
B. zeichnet diesen Weg mit ausgewählten Texten anschaulich nach. In zweierlei Hinsicht bleibt er den Spuren der historisch-genetischen Methode verpflichtet. Biographische Fakten und literarische Zeugnisse werden nicht nach Aussagewert getrennt (worin man auch die starke Seite der Konstruktion sehen kann), und: Die Bewegung des Autors zwischen „Mythos und Kritik“ bleibt auf den alten Fontane gerichtet, erst dieser habe eine neue tragfähige Synthese gefunden. Angesichts der notwendigen Aufsplitterung der Forschung in die immer schwerer überschaubaren Teilgebiete sollten wir den Vorschlag im Gedächtnis behalten. Eine durchgehende Untersuchung mit Berücksichtigung des je spezifischen Wirklichkeitsverhältnisses ist noch nicht geschrieben.
H. Nürnbergers Aufsatz „Fontanes Briefstil“ geht von der wachsenden Resonanz des Briefwerkes aus. N. greift Reich-Ranickis Bezeichnung von den „Bruchstücken einer großen Konversation“ auf (1972), um am Schluß seiner Studie - nach Prüfung der entscheidenden Stufen der Briefe-Edition und -Rezeption zu fragen: „Ob es sich bei dieser Konversation nicht doch
742