freudigkeit“ (S. 102) u. a. den Gesamtvergleich bereichert zu haben. Fontanes Stellung im zeitgenössischen Literaturprozeß könnte nun komplexer erforscht werden.
„Die späte Lyrik Theodor Fontanes“ wird von Karl Richter in den Mittelpunkt seiner Untersuchung gerückt. Noch immer stehe die Lyrik im Schatten des Erzählwerkes. Dieses Ungleichgewicht „resuliert aus unbestreitbaren Gewichtsverteilungen im Werk selbst“ (S. 118), meint R., tritt aber jeder Entgegensetzung strikt entgegen. Sein Ziel ist es nachzuweisen, daß „das literarisch ,Junge' der Altersromane in der Alterslyrik eine beachtenswerte Parallele hat.“ (S. 118)
Richter spürt einen erkennbaren Stilwandel bei F. in der Gruppe der Gedichte auf, die den Zuwachs der 3. Ausgabe von 1889 (gegenüber der 2. von 1875) ausmacht. In den thematischen Akzentverlagerungen entdeckt er „das Vordringen der Zeit- und Gesellschaftsbezüge, die Tendenz zur skeptischen Betrachtung von Zeit und Gesellschaft.“ (S. 119)
Aus seinen exemplarischen Analysen erwächst die Einsicht, daß der späte F. dem späten Goethe (etwa im „Diwan“) und dem späten Heine (in dessen Zuwendung zum Alltag) nähersteht als den Zeitgenossen Storm, Heyse oder Geibel. In der Gegenwart sieht R. diese Tradition bei Kästner u. a. fortgeführt.
Die damals unkonventionelle und unauffällige Synthese von betonter Alltäglichkeit und subtiler Zeitbezogenheit, von Abstand zum öffentlichen Leben (Unfeierlichkeit) und Neugier allem Menschlichen gegenüber vermittelt sich vordergründig über die Situation des Alters, ja des Abschiednehmens. Schaut man tiefer (und R. vermag diese Lesart überzeugend vorzuführen), so erschließen sich über die bekannten Tendenzen zur Spruchdichtung, über die dialogischen Momente ebenso wie den stilisierten „Bummelton“ des lyrischen Ichs weite Gesellschaftsbezüge, die im Kern auch die Themen und Techniken der späten Prosa sind. Sprache und Sprechen werden thematisiert, Abstand zum Leben kann mehr transponieren als Resignation: nämlich Abstandnehmen von Veräußerung und damit Unglaubwürdigkeit, Fremdwerden kann als Prozeß der Entfremdung erscheinen. Der betonte Verzicht auf metrischen Prunk (R. erinnert an die Verse C. F. Meyers zum Vergleich), die souveräne Benutzung des Knittelverses mit seiner Füllungsfreiheit hätten F. schließlich auf einen Weg geführt, der unserem Zeitgefühl näher stände als den Zeitgenossen damals.
Freilich setzen diese Altersgedichte einen Kunstverstand voraus, durch den Humor und Betroffenheit, Respektlosigkeit inmitten von Entsagung auch historisch bezogen werden können: gegen alle Arten von Gründerzeit- Bewußtsein und falsches Pathos. Gerade der Zyklus „Aus der Gesellschaft arbeite mit bewußter Übertreibung zum Zwecke der Distanzierung. Den darin angeschlagenen Ton findet R. in „Frau Jenny Treibei“ wieder, auch in den Friedlaender-Briefen. Aber so übersehbar stehen die Dinge nicht immer, und gerade bei Verkürzungen verlange der Dichter von uns die Kunst, Beziehungsreichtum zu entdecken.“ Denn ungeachtet aller Abbreviaturen, mit denen die Gedichte — anders als Fontanes Romane — arbeiten,
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