bezeugen sie damit eine geschichtliche Sensibilität und einen geschichtskritischen Sinn, der für ihr Verständnis wie für ihre Bewertung wesentlich ist.“ (S. 138) Mit Reuter plädiert R. für den Zusammenhang von Lyrik und Roman beim späten Fontane; über Reuters Lyrikverständnis hinaus vermag Richter die offene Struktur der Gedichte vor allem über deren Sprechweise darzustellen. Gegen H. Schlaffer u. a. gewandt (S. 139) widerspricht R. energisch der These, der „poetische Realismus“ sei der Lyrikentwicklung nicht günstig gewesen. Die Offenheit der Formen, Töne und Themen weise auf Fontanes bis ins hohe Alter bewahrten wachen Sinn für geschichtlichen Wandel. In diesem Sinne schlägt Verf. die Neubewertung dieser Lyrik vor. Mit großer Erwartung darf man der ersten vollständigen Gedichtausgabe im Aufbau-Verlag (Bearbeiter J. Krueger) entgegensehen. Richters Vorschläge sind bahnbrechend. Seine Ergebnisse bilden den Auftakt zu einer Gruppe von Beiträgen, die sich zwar locker aneinanderreihen, aber auch konzeptionell ergänzen. Je verschieden ist vom Altersstil die Rede.
P. I. Anderson stellt die Frage: Wie kommt es zu jener vielbeschriebenen Mehrdeutigkeit, jenem „Gefühl des seelischen Schwebens“ (S. 143), das schon Thomas Mann eine Art Verzauberung nannte? Textstellen könnten diese Wirkung beim Leser nur schwer belegen, „Immer wieder fehlt ein wichtiges Glied der Interpretationskette“, und auch Reuter, Müller-Seidel, Jolles u. a. hätten hier ein Defizit der Forschung und ihrer Methoden fest- gestellt. „Jeder kennt den Fontane-Ton, aber niemand kann sagen, woher die Musik kommt..." (S. 144).
A. sucht nach Wegen, poetische Kreativität zu beschreiben (S. 145). Er versucht es in Anlehnung an Wittgensteins Sprach-Spiel-Philosophie und hofft, am Beispiel der Zusammenhänge zwischen den „Kinderjahren“, Briefen, Selbstaussagen und „Effi Briest“ ein „biographisches Lesemodell“ (S. 176) skizzieren zu können. Seine schöpferischen Bemühungen sind auf den Schaffensprozeß gerichtet, und indem einzelne Leerstellen des Textes mit den genannten Materialien (hypothetisch) verknüpft werden, werden Vorschläge zur Neuinterpretation des Textes, aber auch zur Kennzeichnung der Arbeitsweise generell sichtbar.
„Versteckspiel“ im Sinne Wittgensteins (als Phasen der Verarbeitung von Erlebtem) wird sehr unmittelbar auf entsprechende Passagen des autobiographischen Romans bezogen, in dem (im 14. Kapitel) vom einstigen kindlichen Versteckspiel die Rede ist. Da man weiß, daß der Dichter sich mit dieser Arbeit gesundgeschrieben haben soll, folgt man interessiert, wie A. (in Weiterführung von Riechei u. a.) die Psychologie der Verarbeitung aufdecken will. Die Textbelege sind frappierend, Brief- und Erinnerungsstücke (aus Swinemünde, über Minna Krause/Klöden — Fontanes Jugendliebe) können als ein Schlüssel für Weglassungen und Hervorhebungen erscheinen.Insgesamt entwickelt Verf. ein hypothetisches Geflecht von vorbewußter, später bewußt eingebauter Lebensgeschichte, das des Dichters Eigenkommentare durchaus in Frage stellen kann (vgl. S. 173). Bedenkt man, wie unkritisch oft Äußerungen des Dichters für die entscheidenden Impulse genommen werden, so liest man die Studie mit Gewinn. Der Nachweis des Zusammenhangs der genannten Schriften wird erbracht,
746