Die poetische Umfunktionierung des Standesgefälles korrespondiere mit der Kürze des Romans. Zahl und Eigenart der Freiräume für Leseraktivität seien ungewöhnlich groß - zur Spiegelung tatsächlicher Verhältnisse trete ständig Vertiefung und Symbolisierung. Am Ende werde das Dekadenzmotiv vom Selbstbehauptungsmotiv überlagert. A. sieht darin eine Kunstleistung, in der Endzeitbewußtsein und moralischer Rettungswunsch zusammenstießen. Zukünftiges werde sichtbar, wenn man die Zeichen der Zeit und die Zeichen des Textes zusammenfüge (S. 232).
Mit Recht verweist Verf. auf diese Textstruktur; das letzte Wort haben freilich die Leser. Aber warum sollten diese nicht aufmerksamer als bisher und mit gewachsener historischer Erfahrung lesen? Den beschriebenen Aushöhlungsprozeß kann man im „Stechlin“ weiterverfolgen, dessen zentrale Figur auch nicht „für den Adel'“ steht, es sei denn, man versteht darunter jene nicht an den Stand gebundenen Qualitäten, die Dubslav von Stechlin verkörpert.
„Fontanes Zaubersee“ nennt Charlotte Jolles den großen Altersroman des Dichters. Indem sie die Beziehung zu Thomas Manns „Zauberberg“ zum Ausgangspunkt wählt, kann Verf. dem Werk mit literaturhistorischen, ja menschheitsgeschichtlichen Fragen begegnen. In diesem Rückblick vom 20. Jahrhundert aus wird F’s. traditionsstiftende Leistung herausgearbeitet. J. setzt bei den bis heute divergierenden Urteilen über den Roman an, dessen sogenannte Formlosigkeit von den einen als Schwäche, den anderen als Neubeginn (Durchbruch) bezeichnet wird. Es gelingt ihr, die gesellschaftshistorische Substanz durch Vergleiche zu ermitteln, die die „Modernität“ des „Stechlin“ nicht nur mit Th. Mann behaupten, sondern die sogenannte Formlosigkeit (mangels Plot) als Durchbruch in Richtung auf einen neuen Typus von Zeitroman interpretieren. Das je spezifische Verhältnis von Geschichte und Gegenwart bewährt sich als tragende Achse des Vergleichs.
Zunächst seien beide Romane Zeitromane, insofern, als menschliche Grundsituationen an bestimmte „hermetische Orte“ (S. 242) gebunden würden, die den Rundblick auf Epochenzäsuren (vor dem ersten Weltkrieg bzw. am Ende des 19. Jh.) gestatteten. Und obgleich die „Intellektualität“ beider Romane (die auch Ideenromane seien) höchst unterschiedlich sei, bilde dieses reflektierende Moment eine bestimmende Komponente nicht allein für das Profil der Helden; der eigentlich historische Beziehungsreichtum werde dadurch ermöglicht. Im einzelnen werden Nietzsche-Parallelen verfolgt, die Einbeziehung von Persönlichkeiten, von Bismarck über Garibaldi bis Bebel. Und indem diese und andere Gesprächspunkte als verwandt, aber unterschiedlich akzentuiert dargestellt werden, begreift der Leser, daß die Helden eine Art Bedeutungsklammer widerspruchsvoller Ansichten bilden können, mittlere Helden mithin für eine besondere Art von Handlung, die mehr als die Summe ihrer Teile umfaßt. Sie sei an diese Figuren gebunden, ohne sich in diesen Figuren zu erschöpfen. Hinter der Skepsis wirke die stetige Suche nach Wahrheit, und gerade dadurch sei Entwicklung möglich. Die Durchdringung der Gegenwart und des vordergründigen Geschehens sei durchaus verwandt, freilich an andere Grunderfahrungen
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