Nach einem kurzen Forschungsabriß kennzeichnet Verf. ihr Material: 4 000 bis 5 000 Lesebücher zwischen 1900 und der Gegenwart (nach 1945 nur solche aus der BRD), die meisten „aus dem Gymnasialbereich“. Die Darstellung verfährt nicht chronologisch: 1900—1913 folgen die Jahre 1933-1939; 1913-1923 folgen die Jahre 1939-1945; 1923-1933 folgt die Zeit von 1945—1954. Diese Ordnung will „historisch ähnliche Konstellationen“ gegenüberstellen, Kriegs- und Nachkriegszeiten (vgl. S. 284). Aber das bedeutet eine Vorausbewertung, die dem ohnehin äußerst knappen Abriß (60 Jahre auf 6 Seiten) nicht bekommt. Das hochinteressante Material erfährt eine Prägung, in der allzu viele Wertungsmöglichkeiten untergehen und fragwürdige Schablonen dominieren. Des Fragens würdig sind diese durchaus, nur erwartet man tiefergreifende Antworten. Die Ergebnisse der Materialsammlung faßt Verf. in 2 Punkten zusammen: 1. werden bestimmte Balladen und Gedichte kontinuierlich tradiert, zumeist zum Zwecke patriotischer Gesinnung, 2. Kindheitserinnerungen und Ausschnitte aus den „Wanderungen“ haben das Bild eines märkischen Dichters betont, wobei erst spät die Romane ins Hauptfeld des Interesses rückten. Insgesamt zeige die Lesebuchanalyse, wie das „Rezeptionsmuster Fontane“ in nationalen Zielvorstellungen befangen ist (S. 291 f.).
Man ahnte das, aber bei den Teildarstellungen ergeben sich doch Zweifel. Im Abschnitt 1923—1933 werden einzelne Gedichte (wie „Ja, das möcht’ ich noch erleben“) als Texte mit privatem Charakter gekennzeichnet (S. 289). Wenn man K. Richters Analysen kennt, ist zumindest offen, wie dieser Tatbestand zu werten ist. Der insgesamt richtige Trend zum „Rückzug ins Private“ ist damit nur tendenziell zu stützen, und ehe solche Lehrplanvorgaben nicht umfassender eingebettet werden, lesen sich die Fakten wenig mehr als anregend. Der zitierte Friedlaender-Brief zum Wesen Fontanes (v. 3. 10. 1893) paßt nur bedingt zur Deutung der Verf., legt den Umgang mit diesem Text weder auf Seiten der Lehrer noch Schüler einschichtig fest. Ähnlich pauschal, weil statisch, wird über die Textauswahl zwischen 1945 und 1954 resümiert. Weiterführende Untersuchungen müssen breiter angelegt und durch flankierende Erhebungen gestützt werden.
Wenn „Der alte Grenadier“ und „John Maynard“ zwischen 1939 und 1945 in die Rubriken „Ehre und Mannestum“ — „Opfer und Dienst“ — „Natur und Schicksal“ gerieten, so kann man zwar vermuten, was aus ihnen abgelesen werden sollte. Aber wie geschah das wirklich, und wie wurde das vorbereitet? Verf. gibt aufschlußreiche Hinweise für die Fortführung solcher Fragen. „Hirt Deutsches Lesebuch“, Ausgabe A, Breslau 1939, nennt den Rahmen der Behandlung: „Nur was du im Innern bist, immerdar dein eigen ist.“ Müßten wir solche Angaben heute nicht historisieren?
Was einst zur Besinnung und Bewahrung gegen Veräußerlichung und Entfremdung diente, konnte durchaus zur Abwendung und Abkehr von öffentlicher Verantwortung mißbraucht werden — schließlich sogar moralische Standhaftigkeit da postulieren, wo doch schon alles oder doch vieles verloren war. Auch dies muß freilich Anregung bleiben.