Fontane kann die pauschale Hochschätzung von Goethes Werken nicht teilen, der oben zitierte Brief an Zöllner schließt mit einer der ablehnendsten Äußerungen Fontanes über Goethe. Das prägnante Gesamturteil über die „Natürliche Tochter“ kann auf Grund der hier publizierten Aufzeichnung genauer nachvollzogen werden. Wörtliche Übereinstimmungen zwischen Aufzeichnung und Brief belegen den engen Zusammenhang: Goethesche Weisheit, klassische Sprache bzw. Form, Misere, langweilig.
Goethe hatte „Die natürliche Tochter“ als eine Trilogie geplant, in der er seine Gedanken über die Französische Revolution künstlerisch umsetzen wollte. Nur der erste Teil wurde jedoch ausgeführt und am 2. April 1803 in Weimar uraufgeführt 7 . Dieser entstehungsgeschichtliche Hintergrund ist Fontane offensichtlich nicht bekannt. Er betrachtet das Drama als in sidi abgeschlossen und erwähnt den Bezug zur Französischen Revolution nicht.
Fontane erkennt jedoch, daß Goethe in diesem Drama zu politischen Problemen, besonders zum Verhältnis von Adel und Bürgertum Stellung bezieht. Goethe zeigt das Bürgertum nicht als politische Kraft. Darin sieht Fontane einen Mangel des Stückes, worin ihm die Goetheforschung 8 teilweise recht gibt. Fontane führt diese Position auf Goethes Lebensumstände am Hof eines deutschen Kleinstaates zurück. Damit wirft er Goethe indirekt vor, seiner gesellschaftlichen Stellung verhaftet geblieben zu sein.
Durch diese Argumentation bringt Fontane die Zeitgebundenheit, die er auch bei anderen Werken Goethes und Schillers empfindet, mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in Zusammenhang. Die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen im 19. Jahrhundert entziehen nach Fontanes Ansicht der üblichen Kanonisierung von Werken Goethes und Schillers zu zeitlosen Mustern die Berechtigung.
Goethes Kritik am Egoismus und der Zerstrittenheit innerhalb des Adels übergeht Fontane, weil er das Gelingen der Intrige am Ende des ausgeführten Stückes für endgültig hält. Bei einem solchen Schluß findet Fontane in dem Werk keine Perspektive, die über die geschilderte Misere hinausführt. Deshalb bleibt bei Fontane die „Erhebung des Herzens“ aus. Die aus der klassischen Ästhetik stammende Kategorie der Erhebung erfordert nach Fontanes Ansicht bei der Darstellung von unerfreulichen Sachverhalten positive Figuren oder eine Art der Gestaltung, die niederdrückende Wirkungen verhindert und Möglichkeiten zur Veränderung oder inneren Distanz aufzeigt.
Derartige Ansätze vermißt Fontane in „Die natürliche Tochter“ zu Unrecht. Die bestehenden Zustände erscheinen keineswegs als unvermeidlich. Goethe schildert Eugenies Ehe nicht als entehrendes soziales „Hinabsteigen“, sondern als Entsagung. Für Eugenie, einen vorbildlichen, guten Menschen, ist in den damals gegenwärtigen politischen Zuständen kein Platz. Sie muß sich in den privaten Bereich zurückziehen, um sich für künftiges politisches Handeln zu bewahren. Diese Möglichkeit bietet ihr das Bürgertum. In der Menschlichkeit der Hauptfigur gestaltet Goethe Hoffnung auf Erneuerung.
Fontane setzt einen bürgerlichen Standpunkt mit politischen Ansprüchen dagegen. Nur dieser scheint ihm die Misere überwinden zu können. Bei
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