Heft 
(1982) 33
Seite
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einem Lande reichen, hochangesehenen, selbstbewussten Bürgertums denkt Fontane sicherlich an England, das er selbst als positiven Gegensatz zu Deutschland nach 1848 erlebte. Fontane formuliert hier ein bei ihm seltenes Vertrauen in das Besitzbürgertum.

Fontanes Inhaltsangabe übergeht die zahlreichen Unstimmigkeiten und Unklarheiten in der pragmatischen und psychologischen Motivation, was angesichts der genauen Beachtung von Klarheit und Konsequenz in anderen Literaturkritiken Fontanes überrascht.

Fontane bewertet das Drama von dem nur unzureichend erfaßten Handlungsverlauf her. Goethe behandelt die äußere Handlung jedoch nach­lässig, als bloßes Gerüst und verwendet mehr Sorgfalt auf Sprache und Form, auf einzelne Reflexionen und symbolische Bezüge. Die Qualitäten, die das Drama dadurch gewinnt, erkennt Fontane durchaus:Die ganze Fülle Goethe'scher Weisheit erschliesst sich einem in einer klassischen Sprache. Er sieht jedoch in der Form keinen Ausgleich zu dem ihn deprimierenden Handlungsverlauf, in den Reflexionen und Symbolen keine Vertiefung der Problematik über den pragmatischen Zusammenhang hin­aus.

Als Drama und damit als Kunstwerk kann FontaneDie natürliche Tochter nicht akzeptieren, weil das Stück auf ihn nicht die Wirkung ausübte, die er von einem Kunstwerk erwartet. Aber Fontane interessieren einzelne Figuren alsGesellschaftstypen, als getreue Wiedergabe typischer Erscheinungen des höfischen Lebens der Goethezeit. Solche genaue Ab­schilderung negativer Umstände Hält Fontane innerhalb eines Kunstwerks für unangebracht.

Fontane nähert sich Dichtungen vom Stoff, von den Figuren, vom Hand­lungszusammenhang her. Damit wird er den Werken der deutschen Klassik oft nicht gerecht, deren Zentrum meistens in gedanklichen oder symbo­lischen Zusammenhängen besteht. So beschreibt Fontane den Bildungs­romanWilhelm Meisters Lehrjahre als einzeitbildliches, die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts vorzüglich charakterisierendes Werk 9 . Fontane erwähntDie natürliche Tochter noch einmal in einem Brief an Georg Friedlaender vom 19. März 1895:Ein Mecklenburger (...) kann nie die .Jungfrau von Orleans' oder die .natürliche Tochter' schreiben; er bringt die Vornehmheit, den großen Stil nicht heraus, (. 25 Jahre nach der

Lektüre nennt Fontane das Stück als ein Beispiel fürgroßen Stil der positive Eindruck der .klassischen Sprache' wirkte offenbar nachhaltiger als die Enttäuschung über den Ausgang der Handlung.

Anmerkungen

1 Vgl. Brandenburgische Landes- und Hochschulbibliothek. Theodor-Fontane- Archiv, Potsdam. Bestandsverzeichnis, Teil 1,1. Theodor Fontane: Handschriften. Bearbeitet von Joachim Schobeß. Potsdam 1962. S. 128.

2 Theodor Fontane: Aufzeichnungen zur Literatur. Ungedrucktes und Unbekanntes. (Hrsg, von Hans-Heinrich Reuter.) Berlin/Weimar: Aufbau 1969. Briefwechsel S. 10-16. Wahlverwandtschaften S. 17 f. Das folgende Zitat auf S. 241 (zit. als AzL).

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