Die Abneigung gegen alles Doktrinäre in Leben und Kunst läßt ihn manchmal das kleinste mit Humor gesehene Stüde Leben höher schätzen als alle Probleme der Zeit, für deren Bedürfnisse er doch sonst so viel Gefühl hat. Ein Heft, „Zeitschrift für Volkskunde“, geht ihm zu, 1891, als alles in sexueller Problematik arbeitet: „Das ist doch was! Mein Freund Leo Berg löst immer noch an dem sexuellen Problem herum — persönlich so ungeeignet wie möglich dazu — und die ganze deutsch-skandinavische Neuliteratur folgt seinem Beispiel. All der Quatsch, der sich geriert, als läute er eine neue Weltperiode ein, wird binnen kurzem vergessen sein, während der Bauer, der noch lebendig für einen Sechser rasiert werden will, weil es nachher einen Groschen kostet, in Äonen nicht untergehen wird. So waren die Menschen immer, und so werden sie wohl auch bleiben. Und dies Menschliche zu lesen, entzückt mich umso mehr, je rarer es, nicht im Leben, wohl aber in der Literatur, wird.“ Die Sachlichkeit gibt ihm einmal die Erkenntnis ein, daß es nicht auf das Rechthaben ankommt, wenn der, gegen den man Recht hat, das Daseinsgewicht eines Bismarck besitzt.
Die von Leidenschaft wie von Denken unverblendete Art hindert natürlich nicht, daß an seinen vielen Urteilswandlungen zuweilen neben einer veränderten Einsicht auch ein persönliches Moment seinen Anteil hat, wie z. B. im Verhältnis zu den Juden. Wenn er aber, mitbewogen durch irgend eine persönliche Dankbarkeit, seine Anschauungen über Menschen und Menschengruppen ändert, das Recht der Kritik läßt er sich nicht schmälern. Dieser Geist der Kritik hängt eng zusammen mit all dem, was wir als Fontanesches Temperament bezeichnen können, mit der Leidenschaftslosigkeit, der Erregbarkeit, dem starken Sinn für Facta. Sein Streben ist, vor sich selbst nicht Halt zu machen. Von den frühesten bis zu den letzten Briefen finden sich mehr als skeptische Äußerungen über die eigene Begabung. Dem gegenüber stehen sehr selbstbewußte, doch hängt das bei seiner reizbaren Natur oft davon ab, daß er sich irgendwie „de haut en bas“ kritisiert fühlt. Selbstbewußte Selbstbescheidung aber ist der Grundton. Und solch Wesen, daß sich selten bedingungslos ausliefert, aber auch nie am bloßen Neinsagen Freude findet, hat er allem gegenüber, was ihn innerlich angeht. Seine negativsten Kritiken haben regelmäßig einen Einräumungs- und Zubilligungsabschnitt. Momentane Ungerechtigkeiten in verstimmten Momenten ändern nichts an dem Grundzug. Ob das, was Fontane angeht, Märkertum heißt oder Adel die Kerle sind unausstehlich und reizend zugleich —“ ob es Bismarck heißt oder moderne Kunst, er muß sich so dazu stellen können. „Das sind die Anfänge der Freiheit, nach der ich vierzig Jahre lang seufze: verehren, bewundern und doch die Meinung und den Mut eines gelegentlichen Nein zu haben. So muß es sein.“
Man kann sogar sagen, damit er eine Sache lieben kann, muß sie seinem Spott Angriffspunkte bieten: nichts ist ihm langweiliger als „die reine weiße Vorzüglichkeit“. Daraus erklärt sich auch seine in diesen Briefen oft erstaunliche Unbefangenheit in Pietätsfragen. Damit hängt auch die Selbstbewachung bei großen Erlebnissen zusammen, das tiefe Mißtrauen in die eigenen Gefühle. Diese Briefe zeigen es wieder. Die Haltung beim
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