Heft 
(1982) 33
Seite
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Wesensbeherrschende in Fontane gewesen sei, schreibt sie:Wir lieben diesen Mann, wie er die Dinge liebte mit relativistischer Liebe, die doch ganz angetan ist von der Echtheit dieses Lebens. Uns bewegt dieser Mann, der den Alltag so tief erlitten hat, den sein unbestechlicher und unbeflü­gelter Realismus zwang, all das, was ihn entmutigt hatte, an jedem Detail neu durchzuempfinden, und dem doch diese von keiner Illusion gemilderte Erfahrenheit nicht das zersetzende, sondern das nährende Element wurde. Solche Sätze lohnen es, mehrfach gelesen zu werden. Im Ansatz waltet hier historische Gerechtigkeit, und solche Überlegungen haben dann auch stark nachgewirkt.

Der Fontane-Biograph Conrad Wandrey schreibt 1919:Das weitaus Bedeutendste, was bis auf diesen Tag über Fontane geschrieben worden ist, enthält die Studie von Helene Herrmann über ,Effi Briest 1 . Und kein geringerer als Thomas Mann bemerkt zu Fontanesmangelnden Sinn für Feierlichkeit : ... der positiv-sittliche Sinn und Wert dieses Mangels ... ist heute erkannt am schönsten von einer Frau, Helene Herrmann.

Vieles zog diese geistig so leidenschaftliche Frau mehr zum Drama hin als zur Epik, vor allem aber zur Tragödie und derenaus der Leidenschaft kommenden Notwendigkeit der Katastrophe. Im Blick auf Fontane meinte sie, sein Werk entbehre derSpannung, der Leidenschaft und der Fülle. Sie vermißte anseiner Kunst das Gleiche, wie an seinem Wesen: die Leidenschaft des Naturells, den Atem, der alles trägt. Aber sie rechnete es Fontane hoch an, daß er selbst um diese Begrenztheit gewußt und ihr Rechnung getragen habe.

Seit den zwanziger Jahren widmete Helene Herrmann ihre Arbeit vorwie­gend der Interpretation großer Dramen. Es entstanden u. a. ihreStudien zu Heinrich von Kleist (1925), ihreMacbeth-Interpretation (1928) und

als LetztesFaust und die Sorge (1937)-welch schlimmer Hinweis

auf das, was dann kam!

Helene Herrmann durfte nach dieser Arbeit nichts mehr veröffentlichen. Als Jüdin war sie der unbarmherzigen Verfolgung durch die Faschisten preisgegeben. Ihre letzten Lebensjahre waren eine einzige große Qual. Wir wissen es: Demütigungen, Not, Elend und Angst prägten ihr Leben, bis sie zusammen mit Max Herrmann und ihrer Schwester Käthe Finder 1942 nach Theresienstadt evakuiert wurde, wo nach zehn Wochen M/ax Herr­mann starb.

Im Mai 1944 wurden die beiden Schwestern in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Ihr Vetter, der Berliner Staatsanwalt Hirschberg, der 1944 nach Theresienstadt kam, Helene Herrmann dort noch antraf und sprach und der das Lager selbst überlebt hat, schrieb mir im Jahre 1947: Es gelang nicht, beide Schwestern vor der Mai-Evakuation zu bewahren. Bei Helene Herrmann wäre es ... wegen ihrer Hinfälligkeit vielleicht gelungen: aber der unerschütterliche Wille, sich von ihrer Schwester keines­falls zu trennen, stand im Wege. Das entspricht ganz dem, was mir Helene Herrmann noch selbst geschrieben hatte auf einer Postkarte, die sie anscheinend aus dem fahrenden Zug geworfen hat. Alles andere verliert

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