Eine Korrespondenz aus London, von der vermutet wird, daß sie aus dem Jahre 1857 stammt, trägt den Titel „Die Camberwell-Deutschen und Gottfried Kinkel“. 32 Darin heißt es: „So hat man denn in diesem Winter (ich glaube auch früher schon) Gottfried Kinkel für eine Reihe von Vorlesungen über deutsche Literatur zu gewinnen gewußt. Ich habe kürzlich einer solchen Vorlesung beigewohnt. Was Kinkel politisch gefehlt hat, gehört nicht hierher. In diesem Augenblick ist er hier Gottfried Kinkel, ein beredter Lehrer, der, wie in alten Tagen, ich will nicht gerade sagen, die Schätze besonderen Wissens erschließt, doch jedenfalls durch große Kraft und Plastik des Vortrags die Gegenstände belebt und seine Hörer fesselt. Er sprach über die Erscheinungen des 13. Jahrhunderts, über Walther von der Vogelweide, über die Anfänge des christlichen Dramas und über .Reineke Fuchs 1 . Das Ganze war anziehend. Nur an wenigen Stellen kam das zum Vorschein, was man Kinkelsche Marotten nennen könnte: Ideen und Sätze, die auf den Einfluß hinweisen, der so viel Unpoetisches über den Poeten gebracht hat. Wer die Geschichte Kinkels kennt (und ihrer sind viele), wird diese Andeutungen verstehen.“ 33
Was sagt Fontane hier über Kinkel? Er sagt, dieser erschließe auf literarischem Gebiete keine besonderen Schätze des Wissens, dagegen hebt er die Lebendigkeit der Darstellung hervor, die große Vortragskunst; weiter unten in demselben Artikel spricht er von „dem glockenklaren Organ“ 3 ' 1 . Hier berühren sich Fontanes und Kellers Urteil: Kinkel war ein Vortragsvirtuose.
Der politische Aspekt gehört, wie gesagt, nicht zu diesem Thema. Eine Auslassung der betreffenden Stellen in der oben gebrachten Anführung war aber nicht möglich, da sonst der zuletzt zitierte Satz unverständlich wäre. Aber gerade dieser weist eine fatale Ähnlichkeit mit einem Satz in dem Urteil über N. N. auf. Im Artikel über Kinkel steht: „Wer die Geschichte Kinkels kennt (und ihrer sind viele), der wird diese Andeutungen verstehen.“ 35 Im Kapitel „Epernay“ heißt es: „Über N. N., den er ebenfalls von Zürich her kannte, und den jeder nach dem Mitzuteilenden leicht zu erraten vermag, .. . “ 3l1 Der Schluß ist naheliegend, daß diese beiden Hinweise denselben Menschen betreffen, was jedoch, wie aus dem Tagebuch hervorgeht, nicht der Fall ist.
Aber auch so spricht einiges dagegen. Wenn auch Keller und Storm über manches Feminine im Charakter des eitlen „schönen Mannes“ 37 Kinkel gespottet haben, so hat doch keiner von ihnen und auch Fontane nicht behauptet, daß Kinkel sich aushalten lasse. Im Gegenteil, Keller sagte, daß Kinkel „ruhig-fleißig“- 38 Vorträge halte, und Fontane schrieb, die deutsche Kolonie in London habe „Gottfried Kinkel für eine Reihe von Vorlesungen über deutsche Literatur zu gewinnen gewußt“. 31 ’ So spricht man nicht von jemand, der sich aus Geschäftstüchtigkeit ..aushalten“' 111 läßt.
In der Personalkartei der Eidgenössischen Technischen Hochschule, wie das damalige Polytechnikum heute heißt, steht auf der Karte Gottfried Kinkels: E. T. H. Lehrkörper Name: Kinkel, Dr. Vorname: Gottfried Heimatort: Oberkassel Geburtsdatum: 11. August 1815 Stellung an der E. T. H.: Pro-
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