Heft 
(1982) 33
Seite
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erstaunlich und bezeichnend, daß er Richard Wagners mit keinem Wort gedenkt.

Auch in der Korrespondenz zwischen Vischer und Keller ist nichts über Richard Wagner zu finden. Die in Marbach und in Zürich liegenden hand- sdiriftlichen Briefe erstrecken sich in regelmäßigen Abständen über die Periode von 1871 bis 1882, also über einen Zeitraum, in dem Richard Wagner eine bedeutende Rolle spielt.

Kellers Meinung über Wagner tritt jedoch aus seinen Briefen an andere Empfänger hervor. Noch bevor er ihn persönlich kennenlernt, hat er schon mit Freuden 1 seine Schriften gelesen; das antwortet er im September 1851 auf einen Brief von Wilhelm Baumgartner 2 , der ihm ausführlich darlegt, welch großen Einfluß Richard Wagner auf ihn ausübt. In den fol­genden Jahren bleibt der Ton ähnlich, Keller interessiert sich für Wagner.

Als Keller dann im Dezember 1855 nach fünfeinhalbjähriger Abwesenheit von Berlin nach Zürich zurückkehrt, wird er sogleich in den Kreis um Mathilde Wesendonk hineingezogen und verkehrt auch bei Wagner. In seinen Briefen aus dem Jahre 1856 ist er des Lobes voll für den Menschen und den Künstler Richard Wagner. Er sagt, daß dieserein hochbegabter Mensch ist und sehr liebenswürdig. Auch ist er sicher ein Poet, denn seine Nibelungentrilogie-' enthält einen Schatz ursprünglicher nationaler Poesie im Text.' 1 Ein andermal heißt es:Ich gehe viel mit Richard Wagner um, welches ein genialer und auch guter Mensch ist.-" Es folgt ein erneutes Lob der Nibelungentrilogie, in dereine gewaltige Poesie urdeutsch, aber von antik-tragischem Geist geläutert, (...) weht. 71 So an Hettner 7 am 16. 4. 1856. Nur einige Tage darauf werden an Ludmilla Assing 8 ähnliche Töne angeschlagen:Richard Wagner ist ein sehr genialer und kurzweiliger Mann, von der besten Bildung und wirklich tiefsinnig. Sein neues Opern­buch, die Nibelungentrilogie, ist eine glut- und blütenvolle Dichtung an sich schon und hat einen viel tieferen Eindruck auf mich gemacht, als alle anderen poetischen Bücher, die ich seit langem gelesen.

Gegen Ende des Jahres 1856 wird in Zürich gemunkelt, Wagner habe ein Gerücht über ein Begnadigungsgesuch in Umlauf gesetzt, um durch seine bei dieser ganzen Angelegenheit zur Schau getragene Zurückhaltung wirklich begnadigt zu werden. Keller glaubt das Gerücht nicht, jedenfalls nicht, daß Wagner etwas davon weiß. Bevor er in seinem Brief an Hettner vom 18. Oktober 1856 von diesem Gerücht erzählt, spricht er schon von Wagner, und zwai-, was vorher noch nicht brieflich geschehen war, in humoristischem Ton:Gegenwärtig ist Liszt mit seiner Fürstin' 10 in Zürich und schwärmt mit Wagner schrecklich Musik. 111

Von nun an und während des ganzen Jahres 1857 taucht neben Anerken­nung immer wieder Mißbilligung auf, wie in dem Brief an Frau Lina Duncker vom 8. Mart (sic! Mart) 1857:Richard Wagner ist durch die Anwesenheit Liszts, der seinetwegen kam, wieder sehr rappelköpflsch und eigensüchtig geworden, denn jener bestärkt ihn in allen Torheiten. 112 Aus demwieder geht hervor, daß Keller nicht zum erstenmal solche Zustände bei Wagner beobachtet hat; und wenn jemand in seinen Torheiten