Ausdrucksweise Emil Kuhs 72 , der sich am 14. November 1873 bei Keller nach dem ihm unbekannten Nietzsche erkundigt, welcher „ein wahnwitziges Buch über die .Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“ zu Ehren Richard Wagners, dieses betrunkenen Schulmeisters, geschrieben“ hat 73 , antwortet Keller gemessen und Abstand nehmend, was er gehört hat: „Sonst nicht unbegabt, sei er durch Wagner-Schopenhauer verrannt und treibe in Basel mit ein paar Gleichverrannten einen eigenen Kultus.“ 74 Es handelt sich hier um Nietzsche, aber indirekt auch um Wagner, durch den sich sonst nicht unbegabte Menschen verrennen können.
Kellers Reserve spiegelt sich in seinen Beileidsworten wider, die er nach Wagners Tod an Cosima Wagner richtet: „Hochverehrte Frau! Gestatten Sie auch einem Nachbaren (sic!) und Freunde des teuern verewigten Mannes aus alter Zeit, Ihnen und der ganzen Familie den bescheidenen Ausdruck seiner tiefen Mittrauer und Erschütterung darzubringen. In hochachtungsvoller Ergebenheit Gottfried Keller Zürich, 19. Februar 1883.“ 7: >
Diese Zeilen sind voller Aufrichtigkeit. Keller spricht zu Cosima, für die er wirklich eine große Verehrung empfand 70 , von dem Wagner, der ihm teuer gewesen war, nämlich von dem Nachbarn und Freunde aus alten Züricher Tagen, „aus alter Zeit“, und nicht von dem zu Weltruhm gelangten Meister. Als Hermann Levi 77 ihn am 18. Mai 1884 um einen Beitrag für ein „Gedenkblatt an Richard Wagner“ bittet, lehnt Keller dieses am 26. Mai 1884 nach reiflicher Überlegung ab, weil er keine geeigneten Motive gefunden habe und nichts Unbedeutendes sagen wolle.
Während das alles schriftliche Zeugnisse von Kellers Meinung über Wagner sind, beruft sich Vischer in seinem Ausspruch auf mündliche Äußerungen Kellers. Mündliche Urteile über andere weisen oft eine größere Vehemenz auf als geschriebene, wie das auch hier der Fall ist. Vischers regelmäßiger persönlicher Verkehr mit Keller hatte bis zum Jahre 1866, d. h. bis zum Fortgang Vischers aus Zürich gedauert. Sehr wahrscheinlich hat Keller die von Vischer angeführten Worte während dessen Züricher Zeit ausgesprochen. Darauf läßt auch Fontanes „hatte“ in der endgültigen Fassung schließen: „Mein Freund Keller hatte ganz recht,... “, als er das nämlich vor einigen Jahren gesagt hat. Damals erlebte Keller ja aus nächster Nähe die verschiedenen Episoden in Wagners Leben mit, welcher zwar im August 1858 Zürich verließ, aber mit seinen dortigen Freunden in Verbindung blieb und sie an seinen Erfolgen und auch an den ihm begegnenden Widerwärtigkeiten teilhaben ließ und sich an sie wandte, wenn er sich in finanziellen Schwierigkeiten befand, so zum Beispiel im März 1864, wo er Zuflucht im Hause der Frau Eliza Wille 78 in Zürich sucht und nicht weiß, wie er seine Schulden bezahlen soll. Das geht aus einem Brief hervor, den er im April 1864 schreibt: „Was soll ich noch schreiben? Mir ist elend zu Mute. Ich weiß nur, daß ich heute über 1 Jahr das Geld für meine Schulden haben werde: davon, ob für jetzt meine Angelegenheiten so geordnet werden können, daß ich den Mut u. die Lust erhalte, noch etwas für mein Leben überhaupt zu tun, hängt vorläufig alles ab. — Weiter kann ich nichts sagen. —“ 7!l Als dann Ludwig II. von Bayern ab Mai 1864 zum Protektor
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