Des alten Stechlin Stellung zu seinem Lehrer ist etwas zwiespältiger Natur. Es ist eine eigenartige Mischung von Anerkennung und spöttischer Kritik. Zunächst einmal darf Krippenstapel bei der Aufstellung des Besichtigungsprogramms für seine Berliner Gäste als „der geborene Cicerone dieser Gegenden“ nicht fehlen. Er schätzt seinen Lehrer auch als guten Pädagogen, der die Dorfjugend „in der Furcht des Herrn“ erzieht: „Dann geht alles am besten .“ 22
Audi Krippenstapels Hilfe im Wahlkampf ist für den nlten Stechlin unentbehrlich: „Und so bitte ich denn unsern politischen Freund, dem wir außerdem für die Erforschung dieser Gegenden so viel verdanken, ich bitte Herrn Lehrer Krippenstapel, uns das von mir Aufgesetzte vorlesen zu wollen.“ Krippenstapel rechtfertigt das Vertrauen, das sein Patron in ihn gesetzt hat, denn „Die Betonungen Krippenstapels sorgten ... dafür, daß der Beifall reichlicher war, und daß die Schlußwendung ... einen ungeheuren Beifall fand.“ 2 '
Nebenher aber geht beim alten Stechlin ein Gefühl der Überlegenheit, eine Einsicht von der Begrenztheit der Krippenstapelschen Qualitäten, die aus der Divergenz zwischen seiner Vorbildung und seinem Geltungsbewußtsein in Erscheinung treten.
Verallgemeinernd kann man sagen, daß die Geringschätzung des Volksschullehrers u. a. auf die Forderungen zurückzuführen war, die man „amt- licherseits“ an die zu erreichenden Bildungs- und Erziehungsziele stellte. Der alte Stechlin umreißt das so: „Der Junge weiß von Fehrbellin und von Leipzig und hat ein kluges Gesicht und steht Red’ und Antwort .“ 21 Und: „Der Hauptregente bleibt doch der Krückstode .“ 25
Bei Wilhelm Raabe im „Hungerpastor“ liest es sich so: „Wie kann sich die hohe Behörde um den Lehrer Silberlöffel bekümmern, wenn die Frage: welches Minimum von Wissen den untern Schichten der Gesellschaft ohne Schaden und Unbequemlichkeit für die höchsten gestattet werden könne — noch immer nicht gelöst ist?“ 2 *’
Es nimmt nicht wunder, daß in dieser Hierarchie die Familienmitglieder der Lehrer noch weiter unten angesiedelt sind.
Die Tochter des Lehrers Brandt im „Stechlin“, die bei Frau von Gundermann arbeitet, ist schlichtweg ein „hübsches Balg“, deren Aufgabe darin besteht, Mäntel abzunehmen und herumzupräsentieren.
Auch Anna, das Dienstmädchen bei Treibeis, ist eine Schulmeisterstochter, von deren moralischen Grundsätzen ihre Herrin wenig hält, wahrscheinlich von der These ausgehend, daß gute Sitten erst bei einem bestimmten Mindesteinkommen garantiert sind.
Frauen und Töchter der Lehrer sind also gehalten, sich durch Herumreichen von Bratenschüsseln die Grundbegriffe von Sitte und Anstand zu erwerben. Auf einem Gebiet freilich — bei Fontane und bei Merckel — brillieren die Schulmeister: Sie haben profunde Kenntnisse in der Bienenzucht. Das Motiv hierfür kann man nicht ausschließlich in dem Bestreben erblicken, die kärglichen. Dienstbezüge aufzubessem. (Emeritus Wolff: „...weniger um des Erwerbs willen als aus Liebhaberei.“ 27 ) Ein Bekannter von Fon-
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