So steht die Hauptfigur der Grete z. B. in der Interpretation des Autors als Symbol für die unterdrückten, ausgebeuteten Klassen. Mit anderen Worten: Grete gilt ihm als Repräsentant des Proletariats. Der Bruder Gretes, Gert, und der Stadtrat von Tangermünde erscheinen demnach als Herrschende, die die legitimen Rechte der nichtprivilegierten, ausgebeuteten Klassen gewaltsam unterdrücken, also als Vertreter des Prinzips der herrschenden preußischen Staatspolitik, wobei darauf hingewiesen werden muß, daß die eigentlichen Gegenspieler Gretes zunächst nur der Bruder und die Schwägerin sind, keineswegs der Stadtrat. Der Brand wiederum symbolisiert in dieser Betrachtungsweise folgerichtig das Schreckbild der proletarischen Revolution, die den Untergang der bestehenden Gesellschaft, versinnbildlicht in der Vernichtung der Stadt Tangermünde, bedeuten würde. Bei genauer Textanalyse erweist sich diese starre Parallelsetzung zwischen historisch-gesellschaftlichem Hintergrund auf der einen Seite und dessen einfacher künstlerischer Verbildlichung auf der anderen Seite als kaum tragfähig bzw. in sich nicht schlüssig. Der Autor kann so in keiner Weise den vielschichtigen ästhetischen Vermittlungen zwischen Wirklichkeit und künstlerischem Produkt gerecht werden, ja läßt sie völlig unberücksichtigt. Aus Figurenaufbau oder Handlungsführung läßt sich weder die aufgestellte Appellthese noch die zur Begründung bemühte politisch-ideologische Interpretation wirklich ableiten.
Folgendes würde z. B. dagegen sprechen: Grete Minde ist von ihrer sozialen Herkunft her, als Tochter eines wohlhabenden und situierten Patrizierhauses, in keiner Weise als Symbolfigur für eine unterdrückte, entrechtete Klasse zu bewerten. Sie vertritt in keiner Phase der Handlung die Interessen irgendwelcher unterdrückter Volksmassen. Ebensowenig sind der Bruder und die Schwägerin — es wurde schon darauf hingewiesen, daß sie als die eigentlichen Gegenspieler zu betrachten sind — im sozialen Sinne privilegiert. Und auch das Angebot der Domina für ein Leben im Kloster als Karitas- und Almosenwesen zu interpretieren, bleibt bloße Behauptung. Kurz: Ich glaube, es wird deutlich, wie der Autor, indem er nicht die ästhetischen Vermittlungsglieder aufzudecken versucht, sondern lediglich darum bemüht ist, eine direkte Verbindung zwischen politisch sozialer Realität der Entstehungszeit und dem Gehalt der Novelle aufzubauen, die Aussage des Werks nicht nur verengt, sondern sie auch in weiten Teilen nicht wirklich zu erfassen vermag.
2. Grete Minde. Versuch einer Interpretation
Die oft gehörten Einschätzungen von Fontanes „Grete Minde“ als einer lediglich „chronikalischen Novelle“ (Clara Sieper) bzw. als Ausdruck des Historismus im 19. Jahrhundert (Walter Müller-Seidel) sind sicher ebensowenig aufrechtzuerhalten wie die oft zitierte Fontaneäußerung zu seinem Werk, eine “psychologische Aufgabe“ (Brief ans. Frau v. 11. 8. 1878, in: Brinkmann, T. F., Dichter über Dichtungen, Bd. 2, S. 246) lösen zu wollen. Doch beide Auffassungen, die von der psychologischen Studie und die, die besonders auf die Verwendung und Verarbeitung des historischen Stoffes zielt, haben Wesentliches mit der Aussage der Novelle zu tun. Was die
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