Die Flucht erscheint als Ausweg aus diesem Dilemma. „Aber heute will ich nur noch fort, nur noch weg aus unserm Haus. Wohin, ist gleich. Es schnürt mir die Brust zusammen, und ich habe keinen Atem mehr.“ (S. 41) Es steht hinter dem Fluchtgedanken kein bestimmtes Ziel. Nicht das Wohin, sondern das Anderswohin wird zum entscheidenden Antrieb. Hinter dem Anderswohin verbirgt sich beider abstraktes Verlangen nach einer Welt, in der sie frei und glücklich leben, ihre Liebe verwirklichen können, wo alle Menschen in Frieden und Harmonie miteinander verkehren, kurz wo ihr Ideal einer freien Menschlichkeit Wirklichkeit ist. Diese Sehnsucht wird verdeutlicht durch den Traum von einem harmonischen Gesellschaftszustand in einem fiktiven Tal, von dem Valtin in einem alten Buch gelesen hatte: „Zwischen hohen Felswänden liegt es, und der Sturm geht drüber hin und trifft es nie; und die Sonne scheint, und die Wolken ziehen; und ist kein Krieg und keine Krankheit; und die Menschen, die dort leben, lieben einander und werden alt und sterben ohne Schmerz.“ (S. 31) Deutlich ist dieses Talmotiv von der engen und beschränkten häuslichen Welt abgesetzt, ist eigentlich der Gegenwurf zu den sie bisher umgebenden sozialen Verhältnissen. Doch der Versuch, diese Vision durch Flucht Wirklichkeit werden zu lassen, scheitert, ja verkehrt sich geradezu. So steht z. B. auch Gretes Traum, einmal Steuermann auf einem großen Schiff zu sein, in der Realität dann die Fahrt auf den unsicheren Planken eines Floßes gegenüber, von dem wiederum nur die Flucht bleibt. Und anstatt in dem idyllischen Tal findet der Leser beide immer noch heimatlos bei einer fahrenden Schauspieltruppe wieder, allein gelassen und unter kärglichen Bedingungen existierend. (Kap. 15) Auch der letzte und tiefgreifendste Haltepunkt für Grete, ihre Liebe zu Valtin, geht verloren. Valtin stirbt. In Valtins Todesstunde spielt sie noch einmal einen Engel, ein Scheinwesen in einer anderen, einer Scheinwelt, dem Theater.
Gretes individuelles Wollen, ihr Anspruch auf Selbstverwirklichung und Emanzipation ist an dieser Stelle endgültig gescheitert. Ihr eigentlich berechtigter Lebensanspruch ist letztlich zerbrochen an den realen Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, dessen objektiven Gesetzmäßigkeiten und Normen, die Grete durch eine Hypertrophierung des individuellen Anspruchs und durch Ausweichen bzw. Flucht zu umgehen trachtete. Gretes Versuch, außerhalb der objektiv wirkenden Gesetzmäßigkeiten eine Eigenidentität zu finden, hat sich als Illusion erwiesen und hat ihr und anderen (Valtin) nicht die Selbstverwirklichung, sondern Selbstzerstörung gebracht. Die Novelle ist an dieser Stelle an einem entscheidenden Knotenpunkt angelangt. Grete kann weder den bis dato eingeschlagenen Weg fortsetzen noch ist ihr eine Rüdekehr in die Welt möglich, aus der sie einst geflohen war. Hier wie dort ist der immer noch bestehende Anspruch auf Selbstverwirklichung nicht zu realisieren. Audi das Angebot eines Lebens im Kloster kann für Grete keine echte Alternative mehr sein. Wenn Grete nun doch, scheinbar resignativ, versucht, in die alte soziale Gemeinschaft zurückzukehren, so vorrangig aus einem Schuldgefühl an Valtins Tod heraus. Doch auch dieser Schritt Gretes muß folgerichtig fehlschlagen. Weder ist Grete wirklich in der Lage noch bereit, sich den Normen und Gesetzen der ihr total entfremdeten Welt unterzuordnen, noch
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