Heft 
(1982) 33
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nur zu erklären durch eine prinzipielle Offenheit seines CEuvres, die den Leser neugierig macht und dazu anregt, die Antwort auf die Frage dieses CEuvres zu Anden und dauernd zu korrigieren.

Mit diesen Überlegungen im Hintergrund bin ich der Meinung, daß der Verf. des vorliegenden Aufsatzes durch seine Akzentuierung des gesell­schaftskritischen Aspektes (der ohne Zweifel vorhanden ist) der Komplexi­tät vonGrete Minde nicht gerecht geworden ist. Sein Staunen über das Verfahren Walter Müller-Seidels ist als Forschungsimpetus sicherlich respektabel, hätte aber ruhig durch eine Phase des Zweifelns und der Selbstkritik abgelöst werden können.

Im folgenden werde ich keine Deutung bieten, die als konkurrierende zur vorliegenden gedacht ist. Es sind ich meine, gemäß der Einladung, zur Diskussion beizutragen nicht mehr als einige Gedanken, die die Reduk­tion des vorliegenden Aufsatzes kritisieren wollen und vielleicht zur weiteren Diskussion überGrete Minde beitragen können.

Dem vorliegenden Aufsatz liegt die Tendenz zugrunde, diesen besonderen Fall der Grete Minde als allgemeinen Fall zu verstehen. Grete Minde steht für die unterdrückten Klassen. Ihr Stiefbruder verweigert ihr das väter­liche Erbe. Indem die Ratsherren nichts gegen das auch vom Bürger­meister Peter Guntz als Unrecht erfahrene Verhalten des Stiefbruders unternehmen, wird die Stadt mitschuldig an der Verzweiflung und den Verzweiflungstaten der Titelgestalt. Der Verf. kommt dann zum entschei­denden Satz:Die Zerstörung der Stadt Tangermünde symbolisiert den gewaltsamen Umsturz der bestehenden Gesellschaft. (S. 9) Dieser Satz bildet die konsequente Weiterführung des Gedankens der Verallgemeine­rung: Grete Minde kämpft nicht für private Interessen, sondern sie wird fast zur Märtyrerin einer entrechteten Klasse.

Abgesehen davon, daß das Reden von Klassen in diesem Zusammenhang nicht vom skizzierten Bild der Gesellschaft gerechtfertigt wird, habe ich noch andere Bedenken gegen diese Deutung. Der Verf. spricht vomUm­sturz der bestehenden Gesellschaft. Davon erfahre ich aber mittels des Buches nichts. Ich weiß nur, daß die Stadt Tangermünde eingeäschert wird. Ob auch die Gesellschaft in ihrer ständischen Gliederung Feuer gefaßt hat, entzieht sich dem Blick des Lesers. Problematisch ßnde ich außerdem die Stilisierung der Grete Minde zu einer Revolutionärin. Was wäre geschehen, wenn sie ihren Anteil am väterlichen Erbe wohl bekommen hätte? Möglicherweise hätte sie dann ihren Platz in dieser Gesellschaft gefunden. Ich gebe zu, daß solche Gedanken spekulativ sind. Aber nicht deswegen, weil ein derartiges Verhalten ihrer revolutionären Natur wider­sprochen hätte, sondern weil das Handeln der Grete Minde vom Anfang der Novelle an zusätzlich auf einer Ebene motiviert ist, der mit Motiven der Bestrafung von Ungerechtigkeit nicht beizukommen ist.

Bezeichnend Ande ich in diesem Zusammenhang die von Valtin kurz vor seinem Sterben gemachte Äußerung: ,Es muß etwas geschehen, fuhr er fort, ,und du kannst nicht mehr bleiben mit den fahrenden Leuten unten. Ich mag sie nicht schelten, denn sie waren gut mit uns, aber sie sind doch anders als wir. Und du mußt wieder eine Heimstätt haben und Herd und

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