Heft 
(1982) 33
Seite
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Domina bestätigt mit ihren Aussagen bereits vom Leser gemachte Beobach­tungen. Spätestens hier, während des Aufenthaltes bei den Nonnen von Arendsee, wird erkennbar, daß in Grete Mindes Leben mehr im Spiel ist als nur gerechte Auflehnung. Zur äußeren Motivation ihrer Tat, der Rache wegen der Erniedrigung durch ihren Stiefbruder und durch die ersten Bürger ihrer früherenHeimatstadt, kommt ein vielfach angedeutetes Moment hinzu. Durch das immer wiederkehrende Thema der Luft und des Flugs wird Gretes Verlangen nach Glück ein Gespräch mit Valtin bringt diesen Sachverhalt ganz zutage 11 mit einem Bereich jenseits des Gesell­schaftlichen verbunden. Gretes oft sich einstellende Atembeklemmung zeigt nicht nur die Unmöglichkeit, in der gegebenen sozialen Umgebung zu leben. Sie deutet als Intensivierung einer zum Wesen Gretes gehörigen Sehnsucht auf eine die Fremdheit im Vaterhaus übersteigende Fremdheit im Leben überhaupt hin. Der ergreifende Schluß der Novelle bedeutet in gewissem Sinne eine pervertierte Selbstverwirklichung Gretes. Die Bahn von Gretes Leben scheint, dabei die sprachlich artikulierten Möglichkeiten der Befreiung übersteigend, durch Hinweise auf das kommende Feuer, vor­gezeichnet, unentrinnbar . 5

Zusammenfassend richtet sich meine Kritik am vorliegenden Aufsatz dar­auf, daß wesentliche Signale, die auf andere Impulse des Geschehens hinweisen, außer Betracht bleiben. Zugunsten einer grundlegenden These bleiben wichtige Stellen, ja ein Geflecht von Hinweisen des Erzählers, unberücksichtigt. M. E. sollten wir das Vielschichtige, den offenen Charakter dieser Novelle nicht zugunsten einer eindeutigen Interpretation reduzieren.

Anmerkungen

1 Ich greife zwei Beispiele heraus: Peter Demetz,Formen des Realismus: Theodor Fontane. Kritische Untersuchungen. München 1964 (Reihe Literatur als Kunst) und besonders: Cordula Kahrmann,Idyll im Roman: Theodor Fontane. München 1973.

2 Als Beispiel dafür sei genannt: Theodor Hermann Pantenlus,Theodor Fontane. In: Velhagen und Klasings Monatshefte. 8, 2 (1893/1894), S. 649-656. S. 654 schreibt Pantenlus etwa:Es lag durchaus nicht in seiner 1= Fontane] Absicht, einen archä­ologischen Roman zu schaffen. Er hält sich daran, daß die Menschen des XVI. Jahr­hunderts Menschen waren wie wir und die Märker damals auch schon Märker. So versetzt er denn die Gestalten, die den Dichter in ihm fesselten, frischweg um drei­viertel Dutzend Generationen zurück und sorgt sich wenig darum, daß man damals ein Wams trug statt eines Jacketts. Die historische Einkleidung gab ihm eine er­wünschte Freiheit für die Handlung, und darauf kam es ihm an. Der Stoff von Grete Minde ist das Kohlhaasmotiv, die Wirkung, welche ein erfahrenes und nicht zu beseitigendes Unrecht auf einen geraden, störrischen Charakter ausübt.

3 Dabei fällt rezeptionsgeschichtlichen Untersuchungen die Aufgabe zu, zu zeigen, warum gewisse Auslegungen eines literarischen Werks in einer bestimmten Zeit dominieren. Für die theoretische Grundlegung dieses hermeneutischen Verfahrens verweise ich auf: Horst Steinmetz,Suspensive Interpretation. Am Beispiel Franz Kafkas. Göttingen 1977 (Sammlung Vandenhoeck).

4.Was ist es, Grete? Sag es. Vielleicht, daß ich es mit dir tragen kann. Was drückt dich? 1 ,Das Leben.' ,Das Leben?' Und er sah sie vorwurfsvoll an. .Nein, nein. Ver­giß es. Nicht das Leben. Aber der Tag drückt mich; Jeder; heute, morgen, und der folgende wieder. Endlos, endlos. Und ist kein Trost und keine Hülfe.' (Grete Minde, S. 48). Für eine etwas ausführlichere Begründung verweise ich nach dem betreffenden Kapitel meines Buches:Der selbstverständliche Geistliche. Unter­suchungen zu Gestaltung und Funktion des Geistlichen im Erzählwerk Theodor Fontanes. Leiden 1975 (germ.-angl. Reihe der Univ. Leiden, Bd. XIV).

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