Engelsgestalten, die schwebend einen Toten trugen. Und sie sah lange hinauf, und ihre Lippen bewegten sich. Dann aber stieg sie, nach der andern Seite hin, die gleiche Zahl von Stufen wieder hinab und sah sich alsbald inmitten des Klosterkirchhofes, der fast noch wirrer um sie her lag, als sie beim ersten Anblick erwartet. Wo nicht die Birnbäume mit ihren tief herabhängenden Zweigen alles überdeckten, standen Dill- und Fencheldolden, hoch in Samen geschossen; dazwischen aber allerhand verspätete Kräuter, Thymian und Rosmarin, und füllten die Luft mit ihrem würzigen Duft. Und sie blieb stehen, duckte sich und hob sich wieder, und es war Ihr, als ob diese wuchernde Gräberwildnis, diese Pfadloslgkeit unter Blumen, sie mit einem geheimnisvollen Zauber umspinne. Endlich hatte sie das Ende des Kirchhofes erreicht (..
16 Vgl. Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, -1958, Bd. 1, S. 742.
Joachim Biener (Leipzig)
Zur Diskussion
Globig betont den tief gesellschaftlichen Gehalt und die künstlerische Meisterschaft von „Grete Minde“. Beide seien von der bisherigen Fontane- Forschung weitgehend ignoriert worden. Was den Gehalt betrifft, so überinterpretiert Globig meines Erachtens den Konflikt zwischen den Tangermünder Bürgern und Grete Minde. Die Tangermünder Patrizier verkörpern zweifellos die Hartherzigkeit und Verstocktheit der Bourgeoisie, aber Grete Minde ist doch mehr singuläres novellistisches Individuum als Repräsentantin unterdrückter sozialer Kräfte. Sie entwickelt sich zwar zu radikaler Antibürgerlichkeit, aber diese hat vorwiegend moralisch-allgemeinmenschlichen, kindlich-psychologischen und schließlich pathologischen Charakter. Damit ist nicht in Abrede gestellt, daß Grete Minde als Übergang und Vorstufe zur sozialen, gesellschaftlich determinierten moralischen Überlegenheit der Lene Nimptsch, Pittelkow oder Roswitha Gellenhagen anzusehen ist, die hier übrigens in Regine eine unmittelbare Vorgestalt hat.
Künstlerische Meisterschaft offenbart sich im ' balladesken Stil, in der Simplizitätssprache, in der virtuosen, aber scheinbar kunstlos wirkenden Technik bei der Handhabung der Konjunktionen „und“, „doch“ und „aber“, in den für Fontane so charakteristischen antithetischen Formulierungen und eben im Fontane-Ton des medialen Erzählers und der positiven Figuren Grete, Valtin, Domina, Ilse von Schulenburg und Regine. Die tonalen Qualitäten des Werkes sind bereits erheblich. Die Sympathie wächst mit dem Hineinhören in die Tonfälle. Fontanes Klage über den mangelnden musischen Sinn der Kritik, geäußert am 11. Juni 1879 im Brief an seine Frau, ist voll begreiflich; „...Daß dies ein Kunstwerk ist, eine Arbeit, an der ein talentvoller, in Kunst und Leben herangereifter Mann fünf Monate lang unter Dransetzung aller seiner Kraft tätig gewesen ist, davon ist nicht die Rede.“
Es bleiben jedoch psychologische und gesellschaftliche Unausgewogenheiten. Fontane hat Gottfried Keller in „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ des Stilbruches bezichtigt. Auf den realistischen Streit der Eltern um den Acker folge die märchenhafte Geschichte von Sali und Vreeni, die wie Grete
80