Minde und Valtin zu eitern- und heimatlosen Kindern werden. Die Seid wyler Novelle verläuft vom Realistischen zum Allgemeinmenschlichen, zur abstrakten Kindheitspoesie. In „Grete Minde“ finden sich die abstraktpoetischen Elemente am Anfang und in der Mitte der balladesken Erzählung, gegen das Ende hin setzt massive Gesellschaftlichkeit ein, gepaart mit Pathologischem. Idyllisches und Gesellschaftliches sind nicht zu voller Einheit verschmolzen, Poetisches und Soziales klaffen zum Teil auseinander. Auch wirken die Figuren des Gerdt, der Trud und der Emrentz psychologisch nicht geschlossen. Die Kontakte zwischen Trud und Emrentz erscheinen psychologisch wenig glaubhaft. Gerdts Borniertheit am Ende will nicht recht zu seiner früheren Hörigkeit passen. Nun sind Unterwürfigkeit und Härte sehr wohl komplementäre Eigenschaften, aber im Falle der Figur Gerdts sind sie ästhetisch nicht genügend verknüpft, wie die Gesamtgeschichte in gewisser Weise auseinanderzufallen scheint. Aber Fontanes Weg zum realistischen gesellschaftskritischen Romancier kündigt sich an. „Grete Minde“ ist mit dem Widerspruch abstrakter und konkreter Poesie eine Station auf dem Wege Fontanes zu durchgehender sublimierter Gesellschaftslichkeit in den Romanen, in denen vor allem das Gespräch, die Causerie sublimierend wirkt. Die Entwicklung von „Grete Minde“ zur „Kohlhaas“-Rezeption und zur massiv-gesellschaftlichen, in der Darstellung allzu lakonischen Finalkatastrophe verweist schließlich doch auf Fontanes weiterführende dichterische Entfaltung, während „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ im Ablauf den letztlich rückwärtsgewandten, bürgerlich begrenzten Charakter von Kellers Dichtung erweist und die Auflösung seiner poetischen Welt ankündigt. Seldwyla als literarisches Abbild einer geschlossenen Gesellschaft, während Fontanes Epik mit wachsender ideologischer Reife sozial immer offener wird und der sentimentale, philanthropische Klassenversöhnungsversuch im Unterschied zu Max Kretzer für ihn bereits um 1880 nicht in Betracht kommt.
Genetische Beziehungen sind in „Grete Minde“ vor allem zu Theodor Storm gegeben. An sein Schaffen fühlt sich der Leser erinnert durch die immenseehaften Kindheitssituationen, durch das Puppenspielermotiv, durch die Kritik an bourgeoiser Hartherzigkeit und besonders durch die chronikhaften, die lyrisierenden und symbolischen Tendenzen. „Grete Minde“ ist aber frei von den ausgleichenden, versöhnlichen Zügen in den gleichzeitig erscheinenden „Söhnen des Senators“. Neben den Romanen Max Kretzers ist letztlich auch der Vergleich mit Theodor Storm geeignet, die sozial harmonisierende Absicht auszuschließen.
Ein letzter einkreisender literaturgeschichtlicher Bezug: 1879 (!) gelangte, besorgt von Karl Emil Franzos, die erste umfassende Ausgabe der Werke Georg Büchners an die Öffentlichkeit. Fontane nahm davon, im Unterschied zu Gerhart Hauptmann und den späteren Naturalisten, leider keine Notiz. Aber objektiv, typologisch steht er mit „Grete Minde“ als insgesamt doch evokativer Gestaltung des Schicksals eines von der Gesellschaft verständnislos und ungerecht behandelten Menschen in „Woyzeck“-Nachfolge und in Vorbereitung des Naturalismus wie auch eigener Werke („L’Adul- tera“, „Effi Briest“), in denen das Motiv der Verdrängung aus der Gesellschaft dann freilich sozial und psychologisch sublimer gestaltet ist.
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