Wirklichkeit erscheint, ist ein dichtes Gewebe von indirekten Kommentaren zum Geschehen, die dessen eigentliche Bedeutung enthalten. Die sinnenhaft erfahrbare und detailliert beschriebene Realität wird zum Medium von Bedeutung. So entsteht eine Struktur von zwei Ebenen. In Gestalten, Handlungsorten und -elementen, in Gegenständen und erwähnten Kunstwerken oder historischen Figuren, in Zitaten und Namen sind Sinn und Botschaft der Bücher, oft auf subtilste Weise maskiert, eingelagert. Nicht zu Unrecht hat Fontane gerade bei Irrungen, Wirrungen gebeten, „auf die hundert und, ich kann dreist sagen, auf die tausend Finessen zu achten, die ich dieser von mir besonders geliebten Arbeit mit auf den Lebensweg gegeben habe“ 3 .
Schon aus diesen wenigen Details aus Irrungen, Wirrungen geht hervor, daß Käthe von Sellenthin keineswegs ein bloßes Klischee, ein bloßer Schatten ist. die ungeprägte, alberne junge Adlige im Gegensatz zur reifen Lene. 1 So sehr die Liebesbeziehungen zwischen Botho und Lene, die zur Hoffnungslosigkeit verurteilte Affäre zwischen dem Aristokraten und der Näherin das Zentrum des Romans bildet, so wenig darf übersehen werden, daß der Abschied beider voneinander schon im 15. Kapitel stattflndet und damit mehr als das letzte Drittel des Romans anderen Personenkonstellationen gehört. Zwei Kapitel hindurch (16. und 17. Kapitel) werden die sich von nun an getrennt entwickelnden Lebensläufe Bothos und Lenes noch nebeneinander dargeboten: Jeweils die Hälfte dieser Kapitel ist halb mit Bothos und halb mit Lenes Erlebnissen ausgefüllt, dann konzentriert sich der Autor bis auf zwei Ausnahmen ganz auf Botho. Das 19. Kapitel gehört noch einmal fast ausschließlich dem Sterben von Frau Nimptsch, und im 26., dem Schlußkapitel, erlebt der Leser auf gut einer Seite Lenes Trauung.
Aber schon die Formulierung „Der Autor konzentriert sich fast ausschließlich auf Botho“ entspricht den Tatsachen eigentlich nicht, denn mehr und mehr rückt der Kuraufenthalt seiner Frau in Schlangenbad in den Vordergrund, der in seiner ausführlichen Detailiertheit in einem Roman dieser Kürze als bloßes Genrebild nicht zu rechtfertigen wäre. Man könnte nämlich durchaus behaupten, daß vom 16. bis zum 26 Kapitel Käthes Kur mit Vorbereitung und Rüdekehr die eigentliche Handlung bildet.
Zu fragen ist also nach der Funktion dieser Gestalt und ihrer Erlebnisse, und wenn man einmal Fontanes Technik erkannt hat, die Bedeutung von Handlung im szenischen Detail und durch das szenische Detail mitzuteilen, dann stellt sich heraus: Käthe von Sellenthin ist eine künstlerisch sorgfältig und zielbewußt gestaltete Figur und hat ein eigenes Schicksal. Sie wächst über ihre eigenen Irrungen, Wirrungen in die Ehe mit Botho hinein, wie umgekehrt dieser während ihrer Abwesenheit zum Ehemann reift. Er empfängt Gideon Franke, erfährt also von Lenes geplanter Heirat, legt einen Kranz auf Frau Nimptschs Grab nieder und spielt sich anschließend als Familienvater auf. Schlangenbad schildert Käthes Prozeß des Reifwerdens zur Ehe. Die Kinderlosigkeit beider in den ersten Ehejahren ist Ausdruck der Tatsache, daß beide die Ehe eigentlich noch nicht akzeptiert haben.
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