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„Käthe“ — so beginnt das 19. Kapitel und damit die Reise nach Schlangenbad — „zog zwischen Berlin und Potsdam schon die gelben Vorhänge vor ihr Kupeefenster, um Schutz gegen die beständig stärker werdende Blendung zu haben, am Luisenufer aber waren an demselben Tage keine Vorhänge herabgelassen, und die Vormittagssonne schien hell in die Fenster der Frau Nimptsch und füllte die ganze Stube mit Licht.“ (S. 119 f.) Dieser Gegensatz von Licht und Schatten deutet wohl zunächst soziale Unterschiede an: die adlige Dame setzt sich der Sonne nicht aus, denn sonnengebräunt zu sein, ist ja erst ein Ideal der modernen Frau. Im 19. Jahrhundert war man bemüht, vornehme Blässe zu bewahren. Solche Sorgen hat Lene nicht. Aber hinter dem Unterschied verbirgt sich mehr, denn die Sonne ist ein Motiv, das die Bedeutung von Käthes Reise zu verstehen hilft, und schon lange vorher wird sie von einem der Offiziere aus Bothos Bekanntschaft im Casino als „weniger Mond als Sonne“ (S. 49) charakterisiert. 5 Sie versucht sich vor der hellen Sonne zu schützen, oder anders gesagt, sie fährt Erlebnissen entgegen, bei denen sie das Licht scheuen möchte. Ganz programmatisch gibt Gideon Franke bei seinem Besuch bei Botho diese Bedeutung des Symbols zu erkennen, wenn er sagt: „Aber jeder Weg muß ein offner Weg und ein gerader Weg sein und in der Sonne liegen und ohne Morast und Sumpf und ohne Irrlicht.“ (S. 132) Käthes Geste wird deutlicher, wenn man beachtet, daß ganz unübersehbar bei ihrer Rückkehr nach Berlin ihr Sonnenschirm wieder eine kleine Rolle spielt: Sie hindert damit einen Blumenstrauß, vom Sitz zu fallen. Kein Wunder, denn das Eigentliche ihres Schlangenbader Aufenthalts wird sie Botho verheimlichen. Dort nämlich hat es einen gewissen Mr. Armstrong gegeben, der unter anderem „immer [...] mit einem großen aufgespannten Sonnenschirm“ (S. 155) geht. Wie Käthe Botho ihre Erlebnisse vorenthält, so berichtet umgekehrt auch er ihr seine Beziehungen zu Lene nicht, seine „alten Geschichten" (S. 106), und damit wird der Kontrast dieses Paares zu dem anderen Paar, Lene und Gideon, deutlich, denn so wie Gideon den geraden Weg der hellen Wahrheit zu Botho geht, bevor er Lene heiratet, gesteht sie ihm — man beachte dieselbe Formulierung — „all die alten Geschichten“ (S. 113). Gideon und Lene also leben in der Wahrheit und brauchen das Licht der Sonne nicht zu scheuen; Käthe und Botho verbergen Aspekte ihres Lebens voreinander und folgen überhaupt den Konventionen. Daher hat Botho bei der Lektüre von Lenes Heiratsanzeige am Schluß des Romans völlig recht, wenn er sagt: „Gideon ist besser als Botho.“ (S. 163) Schon die Namen, wie so häufig bei Fontane, deuten darauf hin. Frau Dörr findet, Botho „is ja gar kein christlicher Name“ (S. 20), aber wenn man Lene Nimptsch und Gideon Franke nebeneinanderhält, dann erkennt man, daß beide einen biblischen Vornamen — bei Lene erst in der Heiratsanzeige als Magdalene identifizierbar, auch das nicht ohne Hintersinn: wie ihrem Vorbild sind ihr nun ihre Sünden vergeben — mit einer Variation des Wortes „Deutsch“ im Nachnamen vereinigen. Nimptsch ist eine Kurzform des Tschechischen „Ne- metsch“ und Franke ist eine alte Bezeichnung der Deutschen. Dagegen sind Rienäcker und Sellenthin typisch preußisch-adlige Regionalnamen, und beider Vornamen enthält das überflüssige Dehnungs-h, das Lene in der
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