Heft 
(1982) 33
Seite
105
Einzelbild herunterladen

sehr vertraut und übersehen, daß der realistische Gestalter Fontane in der Dunkelschöpfung bisweilen den Theoretiker korrigiert hat. Auch hätte typologisch-komparatistische Sicht die romantisierende Optik verhindern können. Sowohl der Blick auf realistische Frauengestalten des russischen kritischen Realismus der Epoche wie die Olga in GontscharowsOblomow, Jelena Insarowa in TurgenjewsVorabend oder Tolstois Anna Karenina, denen Fontane mindestens objektiv verbunden ist, als auch der Vergleich mit der Emma Bovary Gustave Flauberts, die in vollem Gegensatz etwa zu Lene Nimptsch eine wirkliche Romantikerin ist, hätten vor der roman­tischen Attribuierung bewahren können. 2

Im Zusammenhang mit den romantischen Tendenzen steht die Neigung zur utopischen Sicht (S. 89, 112, 123). Die Frauen als Verkörperungen einer gesellschaftlichen Utopie. Die plebejischen Frauengestalten Fontanes sind nach unserem Verständnis ein indirekter, menschlich-moralischer Reflex geschichtlicher Bewegung, des Vormarsches der Arbeiterklasse im Bis­marck-Reich. Frei dagegen sieht, darin von Georg Lukäcs abweichend, die weibliche Überlegenheit auch als Ausdruck einesfeministischen Realitäts­prinzips (S. 80, 163). Die Historizität wird offenbar durch Elinfluß Herbert Marcuses gefährdet.

Trotz dieser Einseitigkeiten liegt eine umfassende und gewissenhafte Fon­tane-Studie vor. Sie zeichnet sich vor allem durch das erfolgreiche Bemühen aus, über eine bloß additive Phänomenologie von Fontanes Frauengestalten hinauszugelangen und die Stellung der Frau in Fontanes Epik ideell­strukturell zu bestimmen. Durch Konzentration wie durch Differenzierung wird die Untersuchung von Fontanes literarischem Frauenbild weiter­geführt. Künftige Untersuchungen zum Thema werden am Buch Norbert Freis nicht Vorbeigehen können.

Anmerkungen

1 Der BegriffÜberschuß ist an sich treffend gewählt. Dietrich Sommer, der im umfangreichen Anhang zitiert ist, benutzte ihn bereits 1969 auf der Potsdamer Fontane-Konferenz. Er sprach damals im Hinblick auf das Menschenbild des späten Fontane im Rahmen der Dialektik von Typisierung und Individualisierung vonÜberschüssen der individuellen Naturen als Ausdruck gelockerter, aber nicht gelöster sozialer DeterminaUon (Fontanes Realismus, Berlin 1972, S. 114). Un­längst hat Jürgen Kuczynski in seinem BandDie Muse und der Historiker, Berlin 1974, im Kapitel über Jacob Burckhardt, der mir in der Vorliebe für kulturhistorisch aufschlußreichen, kleinen Stil und für das repräsentative plastische Detail Fon­tane verwandt erscheint, den Begriff desgeistigen Überschusses bei dem Basler Kulturhistoriker entdeckt (S. 32 und 39). Kuczynski interpretiert dengeistigen Überschuß, den Burckhardt an kulturell-künstlerischen Erscheinungen und histo­rischen Persönlichkeiten der Klassengesellschaft feststellt, als eine über die bürger­liche Welt hinausweisende, uns Heutige besonders tangierende und faszinierende Kategorie.

2 In der Tendenz, auch Emilie Fontane unter dem Aspekt der Einheit von Realismus und Romantik zu sehn (S. 89 ff.), nimmt die romantische Attribuierung kuriose Form an. Anzufügen wäre noch, daß sowohl die relative Nähe zum Naturalismus als auch die Vorwegnahme neo-realistischer filmischer Züge romantische Ingredien­zien im kritisch-realistischen Spätwerk aussehlleßen sollten. Fontane lehnte konse­quenten Naturalismus ab wie die neuromantischeÜberwindung des Naturalis­mus. Seine wachsende Rezeption durch Film und Fernsehen wäre undenkbar ohne die hohe, beispiellose Wlrkllchkeltsandacht seiner Werke. Seine Spätwerke in ihrer Wirklichkeitsdichte, ln ihrer Plastizität und Intensität sind nicht durchlässig für romantische Elemente.