sehr vertraut und übersehen, daß der realistische Gestalter Fontane in der „Dunkelschöpfung“ bisweilen den Theoretiker korrigiert hat. Auch hätte typologisch-komparatistische Sicht die romantisierende Optik verhindern können. Sowohl der Blick auf realistische Frauengestalten des russischen kritischen Realismus der Epoche wie die Olga in Gontscharows „Oblomow“, Jelena Insarowa in Turgenjews „Vorabend“ oder Tolstois Anna Karenina, denen Fontane mindestens objektiv verbunden ist, als auch der Vergleich mit der Emma Bovary Gustave Flauberts, die in vollem Gegensatz etwa zu Lene Nimptsch eine wirkliche Romantikerin ist, hätten vor der romantischen Attribuierung bewahren können. 2
Im Zusammenhang mit den romantischen Tendenzen steht die Neigung zur utopischen Sicht (S. 89, 112, 123). Die Frauen als Verkörperungen einer gesellschaftlichen Utopie. Die plebejischen Frauengestalten Fontanes sind nach unserem Verständnis ein indirekter, menschlich-moralischer Reflex geschichtlicher Bewegung, des Vormarsches der Arbeiterklasse im Bismarck-Reich. Frei dagegen sieht, darin von Georg Lukäcs abweichend, die weibliche Überlegenheit auch als Ausdruck eines „feministischen Realitätsprinzips“ (S. 80, 163). Die Historizität wird offenbar durch Elinfluß Herbert Marcuses gefährdet.
Trotz dieser Einseitigkeiten liegt eine umfassende und gewissenhafte Fontane-Studie vor. Sie zeichnet sich vor allem durch das erfolgreiche Bemühen aus, über eine bloß additive Phänomenologie von Fontanes Frauengestalten hinauszugelangen und die Stellung der Frau in Fontanes Epik ideellstrukturell zu bestimmen. Durch Konzentration wie durch Differenzierung wird die Untersuchung von Fontanes literarischem Frauenbild weitergeführt. Künftige Untersuchungen zum Thema werden am Buch Norbert Freis nicht Vorbeigehen können.
Anmerkungen
1 Der Begriff „Überschuß“ ist an sich treffend gewählt. Dietrich Sommer, der im umfangreichen Anhang zitiert ist, benutzte ihn bereits 1969 auf der Potsdamer Fontane-Konferenz. Er sprach damals im Hinblick auf das Menschenbild des späten Fontane im Rahmen der Dialektik von Typisierung und Individualisierung von „Überschüssen der individuellen Naturen“ als Ausdruck gelockerter, aber nicht gelöster sozialer DeterminaUon („Fontanes Realismus“, Berlin 1972, S. 114). Unlängst hat Jürgen Kuczynski in seinem Band „Die Muse und der Historiker“, Berlin 1974, im Kapitel über Jacob Burckhardt, der mir in der Vorliebe für kulturhistorisch aufschlußreichen, kleinen Stil“ und für das repräsentative plastische Detail Fontane verwandt erscheint, den Begriff des „geistigen Überschusses“ bei dem Basler Kulturhistoriker entdeckt (S. 32 und 39). Kuczynski interpretiert den „geistigen Überschuß“, den Burckhardt an kulturell-künstlerischen Erscheinungen und historischen Persönlichkeiten der Klassengesellschaft feststellt, als eine über die bürgerliche Welt hinausweisende, uns Heutige besonders tangierende und faszinierende Kategorie.
2 In der Tendenz, auch Emilie Fontane unter dem Aspekt der Einheit von Realismus und Romantik zu sehn (S. 89 ff.), nimmt die romantische Attribuierung kuriose Form an. — Anzufügen wäre noch, daß sowohl die relative Nähe zum Naturalismus als auch die Vorwegnahme neo-realistischer filmischer Züge romantische Ingredienzien im kritisch-realistischen Spätwerk aussehlleßen sollten. Fontane lehnte konsequenten Naturalismus ab wie die neuromantische „Überwindung“ des Naturalismus. Seine wachsende Rezeption durch Film und Fernsehen wäre undenkbar ohne die hohe, beispiellose Wlrkllchkeltsandacht seiner Werke. Seine Spätwerke in ihrer Wirklichkeitsdichte, ln ihrer Plastizität und Intensität sind nicht durchlässig für romantische Elemente.