Heft 
(1885) 34
Seite
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Deutsche Noman-Oibliothek.

sie gebändigt. Aber das Alles scheint in Europa heute vergessen Zu sein."

Ach, Sie meinen die Verschwörung der Deca- bristen und den Militäraufstand unter Nikolaus," ward ihm entgegnet.Das Alles ist wohlbekannt."

Mag sein, bei den Historikern, und doch nur in Umrissen. Das meiste Detail ist auch heut noch verborgen und wird vielleicht nie an das Tageslicht kommen." Dann sah er sich vorsichtig um, als sei er noch in Rußland, und fuhr fort:Dort darf man auch heute noch nicht davon reden, und wenn Auszeichnungen gefunden werden, so vernichtet man sie oder schickt sie in's Ausland. Auch mir ist ein solcher Schatz zugekommen."

Man wurde neugieriger.

Sie erinnern sich vielleicht des alten Herrn vom vorigen Herbst der mit dem weißen Vollbart und dem kostbaren Zobelpelz. Es war Generalmajor von P., einer meiner ältesten Gönner und Freunde aus Moskau. Er kam alljährlich nach Karlsbad, und auf der Rückreise machte er hier regelmäßig einige Rasttage. Vor einigen Monaten ist er ge­storben, beinahe neunzig Jahre alt. Die Nachricht warf auch mich darnieder. So werde ich ihn denn nie Wiedersehen, aber seinen letzten Willen werde ich erfüllen."

Sie fein Testamentsvollstrecker? Aber wie ist das möglich, in Dresden?"

So ist es nicht gemeint. Aber der General­major har Memoiren hinterlassen, höchst merkwürdige, hochinteressante Aufzeichnungen; ich übersetze sie jetzt. Da er nicht wagte, sie in Rußland drucken zu lassen, habe ich ihm versprechen müssen, sie nach seinem Tode hier herauszugeben. Was wird es helfen? Diese Menschen sind unbelehrbar; sie wollen aus der Geschichte nichts lernen und beschwören immer wieder das alte Verhängniß heraus. Ich meine beide Par­teien: die hohen Regierenden wie die Malkontenten. Doch das ist ein weitläufiges Thema, und wir reden wohl ein andermal davon."

Damit nahm er seinen Hut und ging davon, hauptsächlich wohl, weil mehrere fremde Gäste ein­getreten waren.

An einem der folgenden Tage, als die Be­kannten im engeren Kreise beisammen waren, kam man auf jene Mittheilung zurück, um Näheres zu erforschen.

Professor D. sah sich wieder scheu um und hielt die Hand vor den Mund.Sie müssen sich nicht wundern über mich, wenn ich bisweilen glaube, immer noch in Rußland Zu sein. Der Arm der Mächtigen reicht dort weit, auch wenn man nicht zu den Nihilisten zählt; verdächtig wird Jeder, der diese Dinge nur zu berühren wagt. Ja, meine Herren, man könnte mit so Vielen Mitleid haben, die schuld­los in's Unglück gekommen. Verblendete Menschen, verführte Idealisten, die ursprünglich kein Verbrechen wollten. Wie hoch stehen Manche aus jener Zeit aber heute o, es kann die Zeit kommen, wo neue Schandthaten jedes Mitleid schwinden lassen. Was in Berlin geschah, ist auch in Petersburg möglich, doch ich will nichts prophezeien. Gleichwohl beurtheilt man im Ausland unsere Zustände nicht richtig. Die

Erklärung liegt in der Vergangenheit, und deßhalb sind mir jene Aufzeichnungen höchst werthvoll."

Einer der Anwesenden, ein Verlagsbuchhändler, ließ den Wunsch blicken, das Ganze oder wenigstens einige Theile für die bei ihm erscheinende Zeitung zu erwerben.

Wozu das?" sagte der Professor.Für die bloße Unterhaltung sind diese Dinge zu schwer und ernst, und in anderer Beziehung ist die Zeit noch nicht gekommen. Noch leben manche Familien oder doch ihre Nachkommen, die an den Enthüllungen Anstoß nehmen könnten. Vielleicht in zehn oder zwanzig Jahren, wenn im Reiche des Zaren eine andere Lust weht. Aber allerdings, eine Episode könnte ich Ihnen wohl mittheilen, betrifft sie doch eine längst abgeschiedene Persönlichkeit."

Aus den höheren Kreisen?"

Doch nicht. Der Held ist eigentlich, obschon ein interessanter, doch obskurer Mensch gewesen, der gleich­wohl in den Mittelpunkt der weltgeschichtlichen Ent­scheidungen kam. Wie es zuweilen zu gehen pflegt, daß in den Falten der Weltgeschichte sich manches Einzel­geschick von Menschen verbirgt, deren Mitwirkung auf die großen Ereignisse ein Helles Licht wirft, so auch hier. Zudem war er, wenn auch eine problematische und räthselhafte Natur, doch ein Mann, dessen Geschick in Schuld und Verdienst vollkommen tragisch verlief. Manche werden ihn einen Verbrecher, einen Schurken nennen, der vor dem nichtswürdigsten Verrath nicht znrückschreckte, und doch muß der Kern feines Wesens edel und nicht unbedeutend gewesen sein ein Cha­rakter, der seinen eigenen Biographen und Psychologen verlangt. Von diesem nun könnte ich.Ihnen Wohl Mittheilnngen machen, ohne Indiskretionen Zu be­gehen."

Der Vorschlag wurde mit Beifall angenommen, und schon am Abend desselben Tags saß man in einem Hinterstübchen der Restauration von Renner in der Brüderstraße, wo man in engerem Kreise bisher schon öfter znsammengetroffen war.

Professor D. erschien mit mehreren sauber ge­schriebenen Heften, die er neben sich auf den Tisch legte.

Erschrecken Sie nicht über so viel Ballast. Ich wähle nur einen Jahrgang heraus. Die Episode, die ich Ihnen lesen will, spielt in dem Jahre 1825 und steht mit den erschütternden Ereignissen jenes Jahres, mit dem Tode Kaiser Alexander's und dem Militär­aufstand unter Nikolaus im engsten Zusammenhang. Fragen Sie dann nach einzelnen Personen, so kann ich Aufschluß geben, denn Viele habe ich später noch persönlich kennen gelernt. Manche Nebendinge weiß ich ans dem Munde des Generalmajors, und über Einzelnes, was nicht in den Memoiren steht, ge­statten Sie mir, nöthige Einschaltungen zu geben."

Und so geschah es. Im Ofen des hohen Ge­machs knisterte ein leichtes Feuer. Die Kerzen, welche auf Wunsch neben den Professor gestellt waren, ver­breiteten festliche Helle. Auf dem Tisch stand eine gefüllte Pnnschbowle, und der alte Herr begann Zn lesen, nachdem auf fein Verlangen die Thür sorg­fältig verschlossen und der Kellner fortgeschickt wor­den war.