Aherwood von Julius Grosse.
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Gvstes Auch.
Aus den Auszeichnungen des Generalmajors von P.
— — — „Nunmehr brach das verhängnißvolle Jahr 1825 herein mit seinen schweren Heimsuchungen und Ereignissen, deren Folgen auch bis in unser entlegenes, sonst so stilles Novomirgorod fühlbar waren, wohin ich ein halbes Jahr vorher aus den nördlichen Militärkolonieen von Nowgorod versetzt worden war.
Ganz Rußland war damals in fieberhafter Bewegung. Von Tag zu Tag hoffte man, daß der Kaiser für den glorreichen Aufstand der Hellenen Partei ergreifen sollte. Der heldemnüthige Kampf des kleinen Volkes entflammte jedes Russenherz, und Millionen sahen die Zeit gekommen, in der sich das sogenannte Testament Peter's des Großen erfüllen würde, hatte doch der Großfürst Konstantin, des Kaisers Bruder, nur deßhalb diesen Namen empfangen, wie man sagte, um einst in Konstantinopel seinen Thron zu errichten.
Aber die Gebete des Volks waren umsonst. Kaiser Alexander war von den: Aufstand wie von einem unheimlichen, elementaren Ereigniß erschreckt, dessen Wirkungen er fürchtete. Das heilige Wort „Freiheit" hatte für den Schüler Laharpe's seit der heiligen Allianz längst seinen Zauber verloren. Das Volk aber murrte, und die Erbitterung wuchs auch in den höheren Ständen. Alle Welt sah in den schrecklichen Naturereignissen, in dem Mißwachs wie in der furchtbaren Sturmflut vom November 1824, die zahllosen Bewohnern von Petersburg das Leben kostete, nur die gerechte Strafe des Himmels.
Aus meiner Reise nach dem Süden beschloß ich, meinen alten Chef und Waffenbruder Uschakofs, unter dem ich als jüngster Lieutenant den Feldzug nach Frankreich vor zehn Jahren mitgemacht und den ich seit so langen Jahren völlig ans dem Gesicht verloren, in sein-er Heimat ausznsnchen. Uschakofs hatte auf Grund seiner Verwundung auf dem Montmartre nach dem Ende des Kriegs seinen Abschied genommen und sich auf seine Güter im Gouvernement Smolensk zurückgezogen, wo er ein glänzendes Leben führen sollte.
Ich wußte, der alte Herr, der beiläufig um mehr als fünfundzwanzig Jahre älter als ich war, besaß eine schöne Frau, und wenn dem Gerücht zu glauben, waren seine beiden Töchter längst Zn reizenden Damen erwachsen. Ein Fürst M., der ihn gelegentlich besucht, sprach von ihrer ungewöhnlichen Schönheit und machte es dem alten Herrn zum Vorwurf, daß er solche bezaubernde Wesen in der Wildniß der Wälder und Steppe verkommen ließ.
Näheres konnte ich bei der weiten Entfernung nicht erfahren, und so war die Kunde von dem glänzenden Glück Uschakoff's bereits zur Legende geworden. Im bunten Lagerleben des Feldzugs freilich und Zur Zeit, als seine Töchter noch Kinder waren, hatte mich Uschakofs oft im Scherz seinen lieben Sohn genannt. Jene Anspielung war mir unvergeßlich geblieben, und seit ich von der seltenen Schönheit der Damen gehört, kam mir oft die Lust, mein altes Versprechen einzulösen und mein gutes Glück zu ver
suchen. Zwar gehörte ich nicht mehr zu den Jüngsten, aber ich hatte mit meinen fünsunddreißig Jahren bereits den Oberstenrang, und meine Sehnsucht, endlich meinen eigenen Herd zu gründen, war um so größer, als das einsame Novomirgorod mir nichts versprach, als die fragwürdige Gesellschaft meiner künftigen mir noch unbekannten Kameraden. — Mein Vorhaben schien auch vom Glück begünstigt zu sein. Die Reise nach Süden ging über Moskau, wo ich mich in dienstlichen Angelegenheiten eine Woche aufhalten mußte. Von dort hoffte ich einen Abstecher nach Uschakoff's Landgut in Stanitza Tarussa zu machen.
Aber gleich am ersten Tage, als ich einen Jswoschtschik genommen, um die erste Gulänia der Moskauer (festliche Korsofahrt in's Freie) anzusehen, überholte ich auf der Twerskaja eine Telega, in der ich den alten Uschakofs erblickte. Ich rief ihn an, aber er erkannte mich zuerst nicht mehr, nahm mich dann aber sofort mit aller Herzlichkeit aus. Seitdem blieben wir mehrere Tage unzertrennlich beisammen. Der alte Herr befand sich dießmal allein in der Stadt, um allerhand Einkäufe Zu machen, Bücher, Südfrüchte, Weine, Kleider und Anderes. So groß meine Freude anfänglich über das unverhoffte Wiedersehen, so peinlich war bald meine Enttäuschung. Der alte Herr schien ausfallend verändert gegen früher. Er war schwerhörig geworden und sehr gealtert, dabei aufbrausend und jähzornig, dann wieder stundenlang verschlossen und tief in Gedanken versunken. Ein schweres Unglück schien auf ihm zu lasten. Daß er seine Frau schon vor Jahren verloren, erfuhr ich erst jetzt, aber das war überwunden. Von etwaigen Vermögensverlusten konnte bei seinen weitläufigen Besitzungen und der geordneten Verwaltung auch nicht die Rede sein.
Als ich gelegentlich bei einem Glase Champagner meine Absicht andeutete, nach Stanitza Tarussa mit hinauszufahren, wurde er seltsam verlegen, und ein mißtrauischer, argwöhnischer Blick blitzte aus seinen hellblauen Augen unter den weißen, buschigen Augenbrauen herüber. Dann suchte er nach Ausflüchten, als wenn er jetzt nicht auf Besuch eingerichtet sei. Und als ich dieß nicht gelten ließ, fuhr er aus:
„Nitschewo, Oberst, lassen wir's für dießmal. — Kannst glauben, es hat ein Jeder ein Gespenst oder Skelet im letzten Winkel seines Hauses sitzen. Das würde Dir nicht gefallen. Sei froh, daß Du keine Familie hast. Glück und Unglück kommen anfangs leise, aber wo das Unglück einkehrt, da tritt es hart auf und bleibt und ißt sich satt. Ich Hab' einmal einen Wolfshund erschossen, meinen Liebling, weil er mit Anderen lies. Seitdem weiß ich's: man soll keine Kreatur lieben, sie lohnen alle mit Undank. Manchmal wollt' ich, der Kartätschensplitter aus dem Montmartre hätte mich besser getroffen. Das Leben ist Lumperei, auch wenn's leidlich war, der Bodensatz ist bitter. Wenn das Schicksal nach der Scheibe schießt, trifft es immer in's Schwarze; darin liegt auch eine Ausgleichung gegen die Anderen. Man muß es eben tragen und die Zähne auf einander beißen!"
Ich war von diesem Ausbruch betroffen. Der