Feuilleton.
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treues, liebes Gesicht, halb lächelnd, halb vorwurfsvoll schaute sie ihn au .. . er stieß einen Freudeu- rus aus und eilte zu Marie. Er wollte sie fragen, wo die Geliebte wäre, und was das Alles bedeute.
Als er keine Antwort bekam, begannen die Zweifel noch einmal ihn zu martern. Warum ließ man sich so hartnäckig vor ihm verleugnen, warum ans einem öffentlichen Balle sollte diese Begegnung stattfinden?
Langsam schritt er durch die winterlichen Gassen. — War es überhaupt mit seiner Würde als Arzt zu vereinen, daß er einen solchen Ball besuchte? — Zwar Personen aus den besten Kreisen verkehrten dort und ein hohes Entree schützte vor unberufenen Eindringlingen, aber immerhin ... Dann besah er das Bild noch einmal, den Brief und die Schleife, und klingelte.
(Schluß folgt.)
Feuilleton.
Wein und Weis heil.
Von
Hugo Klein.
Die Weinlese in Ungarn, dem Lande des Tokayers, bildet ein Fest, welches überall, im Süden wie im Norden, die ganze Bevölkerung in Anspruch nimmt; die Hälfte derselben führt die Arbeit in die Weingärten, die andere Hälfte das Vergnügen. Da kommt der Bogen des Zigeuners nicht zur Ruhe, da verstummen nicht die jauchzenden Lieder, da rastet man nicht auf dem Tanzboden, wenn die Lichter am Himmel angezündet wurden. Das ganze Land wird zur Stätte eines großen, ungeheuren Zechgelages. Wer die Lesezeit einmal in Ungarn verbracht hat, dem ist es so recht offenbar geworden, daß er sich in einem Weinlande pur oxotzUanea befindet, in dem das Verweilen süß, von dem aber das Scheiden recht schwer ist. Dem intimeren Kenner der ungarischen Sprache hat sich diese Erfahrung allerdings schon längst aufgedrängt. Diese wortarme Sprache verfügt nämlich über einen überraschend reichen Ausdruck, wo der Wein in Frage kommt, über eine Fülle von Nüancen, die in einer andern Sprache manchmal sogar schwer wiederzugeben sind. Hier einige Beispiele. Ein schlechter Wein wird nicht nur, wie in Deutschland, ein „Drei-Männer-Wein" genannt (der erste der Drei gießt dem Trinker die problematische Flüssigkeit ein, die anderen Zwei halten ihn, damit er nicht davonlaufe), man spricht nicht nur von einem „getauften Wein", sondern man nennt auch den sauren Tropfen in treffendster Weise einen „armen Wein". Der gute Wein dagegen wird ein „heidnischer", d. i. ungetanster genannt, der vorzügliche ist „mehr als Wein", eine Bezeichnung, die auch auf andere köstliche Dinge häufig ihre Anwendung findet. Der süße Wein aber ist ein „Wein, der unter den Zopf gehört", d. h. für das schöne Geschlecht bestimmt ist. Noch zahlreicher sind die landläufigen Bezeichnungen für den Zecher, der ein Saufbold ist. Einen solchen nennt man spottweise einen „Weinhändler", einen „Weinkönig", eine „Weinflasche", einen „Weinschlauch", eine „Kellerfliege" und noch Anderes mehr.
Eine ganz außerordentliche Rolle spielt der Wein im ungarischen Sprüchwort. ES sind wahre Kernsprüche, in denen er figurirt, wie sie nur der Helle Verstand des Volkes Zu ersinnen weiß — und würde man sie sümmtlich zusammenstellen, so müßten sie eine echte, rechte „Bibel der Zecher" abgeben, wohl geeignet, mit ihren Worten der Weisheit nüchterne Zechkumpane in jenen traurigen Lebensstunden aufzurichten, da ein gefülltes Glas nicht im Bereiche ihrer Hand ist. Einige dieser Kernsprüche will ich heute hier mittheilen; manche davon würden wohl verdienen, einen neuen Mirza Schaffy zu finden, der sie zum Refrain artiger Gedichte macht.
Das Sprüchwort läßt vor Allem der hohen Bedeutung, welche der köstliche Saft der Reben in dem irdischen Jammerthal besitzt, volle Gerechtigkeit widerfahren. „Wein, Waizen, Frieden" nennt das Sprüchwort den dreifachen Segen, der den sehnsüchtigen Wunsch des Volkes bildet. Ein anderes sagt: „Wein, Waizen, Speck sind die besten Gaben des Himmels". Der ungarische Bauer braucht jedenfalls kaum mehr als Wein,
Brod und Speck, um sein irdisches Glück erfüllt zu sehen. Sehr klug ist das folgende Wort: „Guter Wein, Geld und eine schöne Frau brauchen einen ganzen Mann zur Bewachung", was auch in anderer Weise gesagt wird, wie: „Deinen guten Wein und deinen schönen Schatz vertraue nur einem bewährten Manne an". Gewissermaßen eine Variation dieses Sprüchworts ist der Satz: „Guter Wein, eine schöne Frau und ein ruhiges Gewissen sind kostbare Dinge". Ein starker Wein wird ein Wein genannt, „der Todsünden übertrifft" und die besondere Macht, die dem Rebensaft bereits in diesem einen Ausspruche zuerkannt wird, findet in einer ganzen Reihe weiterer Sprüch- wörter seine Bestätigung. Man sagt: „Ein großer Meister ist der Wein", auch: „Ein starker Bursche ist der Wein" und: „Vieles kann der Wein". Eine Anspielung darauf, daß der Wein das Herz des Menschen mit neuem Muth erfüllt, enthält das Sprüchwort: „Der Wein schnallt das Schwert um". Möglicherweise entstand übrigens dieses Sprüchwort gelegentlich der früheren, vor Einführung der allgemeinen Wehrpflicht gebräuchlichen Soldatenwerbungen. Wenn sich ein Bursche auf dem Flachlande damals bei den Soldaten einreihen ließ, so gab es dabei immer ein großes Zechgelage. Ja, die Werbesoldaten pflegten auf den Märkten, vor dem Stadthause der Dörfer rc. solche Gelage aufzuschlagen, um die jungen Bursche anzulocken, und saß einer einmal am Zechtische, war ihm bald die Soldatenkappe auf das Haupt gedrückt. So „schnallte der Wein das Schwert um".
Das lateinische: „Vinum oaret Aavo« ist vom ungarischen Volke übernommen: „Der Wein kennt keine Zügel" heißt es auch hier. Ebenso ist eine andere lateinische Sentenz: Vinum 86nsm stium vsl nolsntsm sultara eompaUit, zum ungarischen Sprüchworte geworden, welches sagt: „Auch die Alten führt der Wein zum Tanze". Bei dem frühern allgemeinen Gebrauche der lateinischen Sprache in Ungarn haben sich solche Translationen verhältnißmüßig leicht vollzogen. Bezüglich der Beziehungen betagter Leute zum Rebensaft sagt das ungarische Sprüchwort noch: „Für die Alten ist der Wein die Arznei". Ein rechtes Wahrwort ist auch jenes, das uns belehrt: „Es gibt keinen Weisen, den der Wein nicht zum Narren machte".
Wir, die wir uns alle für weise halten, haben das oft genug erfahren. Der Wein verwirrt die Sinne, löst die Zunge, verjagt die Ueberlegung — da kann keine Weisheit mehr bestehen. Das ungarische Sprüchwort, das uns solches verkündet, warnt aber auch den Zecher: „Wer den Wein trinkt, bleibe sein Narr", was allerdings leichter gesagt als gethan ist. Das deutsche: „Wein sagt die Wahrheit" (In vino vsritas) findet sich auch wörtlich im Ungarischen. Eine Variation desselben ist: „Der Wein zeigt, was im Menschen liegt". „Der Wein kennt kein Geheimniß" verkündet, daß der Zecher zum Schwätzer wird; doch sagt auch das ungarische Sprüchwort: „Der Wein hat sein Geheimniß", was so viel bedeutet, daß es viele Berufene, aber nur wenige Auserkorene gibt, welche sich auf ein gutes Tröpfchen verstehen; man muß es zu schätzen wissen und seine verborgenen Vorzüge ergründen können.
Eine weitere Andeutung, wie sehr die vollen Becher die Schwatzlust fördern, liegt in dem Satze: „Man spricht mehr