Heft 
(1885) 35
Seite
839
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Feuilleton.

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frühes Grab. Aber es gibt doch auch glückliche Ausnahmen. Ich sehe in diesem Augenblick aus meinem Fenster über das breite, stille Wasser hin aus den hohen Deich an der andern Flußseite, wo die Eschen ihre Wipfel zum Himmel strecken. Dort wohnen in freundlichen, niedrigen Häusern manche alte Schifsskapitäne, welche Feierabend halten und deren letzter Lebensabschnitt der goldigen Abendröthe nach einem finstern, stürmischen Tage gleicht. Da sitzen die ehrwürdigen Grau­bärte still unter den Bäumen und schauen auf den von der Flut bewegten, von Seglern und Dampfern, welche dem Hafen oder der See zusteuern, belebten Strom hin. Sie selbst, die alten Kapitäne, obgleich sie sich als längst abgetakelt betrachten, führen ein keineswegs müßiges Dasein; sie sind eifrig beschäf­tigt in Haus und Garten, mit dem Farbepinsel so gut wie mit Harke und Spaten, sie sind thätig in Gemeinde- und Staats- ehrenümtern und angeln wohl auch in den lauen Sommernächten ein Gericht Fische für die Küche. Es ist ein friedliches Leben dort in den Dörfern am Uferrande. Und wenn die Feierabend­glocke für diese Welt über Land und Strand tönt und der müde gewordenen Pilger sterblich Theil der Erde wiedergegeben wird, dann ruhen die Leiber von ihrer Arbeit auf dem kleinen Fried­hofe neben der alten, epheuumrankten Kirche. Ihre Werke folgen ihnen nach, dereü beste und dauerndste nicht selten am stillen Lebensabend geschaffen wurden.

Vor meinem geistigen Auge steht ein solches Leben, in welches hineinzublicken ich einst Gelegenheit hatte. Es sei mir gestattet, davon zu erzählen.

*

DieConstitution" war ein gutes, festes Schiff, welches allerdings nicht mehr in der ersten Jugend stand. Kapitän Seemann, ein rüstiger Sechziger, hatte es seit langen Jahren mit Glück gefahren. Keine Havarie hatte es je betroffen und die Herren Versicherer an der Börse und die ihre Risikos an- preiscnden Makler bezeichnet»: es mit rothcn Buchstaben in ihren Listen. Allerdings waren die Konjunkturen der guten Bark nicht sehr günstig gewesen. Niedrige Frachten, Blockaden und andere störende Ereignisse hatten ihr Konto nicht frei und Kapitän Secmann's Verdienst nicht zu hoch werden lassen, so daß es ihm, dem mit zahlreicher Familie gesegneten Manne, unmöglich gewesen war, große Ersparnisse zu machen. Ob­gleich er noch seine volle Energie besaß, so meldete sich das Alter doch dann und wann mit Rheumatismus und Gicht an, und nur aus Pflichtgefühl blieb er seinem Berufe noch treu, vollends da sich bisher noch in der Stadt kein sogenanntes Bantje" eine Versorgung, eines Seemannes würdig, hatte finden wollen.

Es war im Dezember Anno Domini Soundso. Glücklich hatte die Constitution auf der Heimreise von Westindien die Nordsee erreicht. Kapitän Seemann hoffte in wenigen Tagen in dem Hafen binnenzukommen und das traute Weihnachts­fest im streife der Seinigen feiern zu können. Aber das Schick­sal hatte cs anders beschlossen. Furchtbare Stürme brachen los, das brave Schiff wurde total verschlagen und hatte über die Maßen zu arbeiten, um die deutsche Küste wieder zu er­reichen. Bei dem entsetzlich schweren Stampfen in der auf­geregten See waren der Constitution einige Nähte gesprungen, so daß sie Wasser machte und die Mannschaft, um das Schiff lenz zu halten, unausgesetzt die Pumpen bedienen mußte. End­lich, nachdem man drei Wochen lang hin und her geworfen war, ohne das Ziel der Reise erreichen zu können, kam das heimatliche Lootsenboot in Sicht, von dem donnernden Hurrah der Mannschaft begrüßt. Der Pilot übernahm das Kommando und führte das Schiff glücklich in den Hafen hinein. Die Ladung war ziemlich unbeschädigt geblieben, doch fand sich, daß die Constitution selbst sehr gelitten hatte, so sehr, daß in Ueber- legung gezogen werden mußte, ob sie, bei ihrem vorgerückten Alter, noch einer umfangreichen und kostspieligen Reparatur Werth sei. Ter Entscheid siel auf Rath von Kapitän See­mann dagegen aus. Der Rath war gut, durchaus selbstlos und auch schon dcßwegen aller Ehren Werth, weil der Kapitän wußte, daß sein Rheder, welcher entschlossen war, zur Betreibung der Dampfschifffahrt überzugehen, ihm kein anderes Segelschiff zur Führung geben werde. Er bot dem bewährten und zu­verlässigen Mann allerdings das Kommando eines Dampfers an, doch meinte Kapitän Seemann, er sei für einen solchen Qualmkasten" doch schon zu alt und altmodig.

Dor findt sick woll wat anners for mi," sagte er.Ick hör, de ole Armenhusvatter is dod. Weer dat nich en Bantje

for mi? Se nähmt'r jo doch jümmer en Kaptein to, Herr- Rheder. Dohn Se en godet Wort for mi."

God, dat Se daran denkt, Kaptein Seemann. Ick will minen besten Foot for Se Vorsetten. Vertaten Se sick up mi."

*

Die Constitution wurde demnächst abgetakelt, nothdürftig kalfatert und auf den Strom gelegt. Theer vertrat forthin die Stelle der Oelfarbe bei ihrer Toilette, die Vergoldung an Heck und Gallion verblich und zeigte die weiße Grundfarbe.

Von Zeit zu Zeit erschienen nun einige schmutzige, plumpe Briggs von England, die ihre Kohlenladung an sie abgaben. Dann kam ein neuer und schmucker, schlanker Dampfer, welcher auf Seit legte und seine Bunkers aus ihren Luken füllte. So führte die Constitution, wenngleich abgetakelt, noch ein nützliches Dasein fort. Die Pumpen knarrten und seufzten wohl mehr als in früheren, besseren Zeiten, doch der alte Lieger an Bord (auch ein abgetakelter Matrose) schlief jede Nacht fest und ruhig in dem guten Glauben, daß sie ihre Nase nie ganz unter Wasser stecken werde.

Auch Kapitän Seemann takelte ab. Er erhielt wirklich die Stelle als Armenhausvater und rückte mit Weib und Kindern in den alten, am Strom gelegenen Bau ein. Ich lernte den alten Kapitän bald nachher kennen, da ich in amt­licher Eigenschaft mit ihm zu Verkehren hatte. Die Väter der Stadt hatten mit ihrer Wahl den rechten Mann getroffen, der weise, fest und mit liebenswürdigem Humor sein nicht leichtes Amt zu führen verstand.

Dieser Stadt Armenhaus zum Beten und Arbeiten" steht über dem mit dem Wappen gekrönten Portal. Es ist ein langes, zweistöckiges Gebäude mit Souterrain. In der Mitte ist ein mit hohen Bäumen bepflanzter Hof, auf welchen die vielen kleinen Bleifenster schauen. Ein Dachreiter, in welchem die Alles im Hause in bestimmte Abschnitte theilende Glocke hängt, ziert die Vorderfronte, während ein Flügel des Hauses die einfache Kirche enthält, in welcher am Sonntage der Geist­liche den Insassen predigt. Und deren sind viele: Männer und Weiber, meist aus den niederen Ständen, aber auch Leute, die einst den besseren Kreisen der Gesellschaft angehörten. Es ist eine große Kunst, solchen gemischten Kreis zu regieren, dort, wo Unzufriedenheit, Unverträglichkeit und Verbitterung über das harte Schicksal, von der Wohlthätigkeit der Mitbürger leben zu müssen, fast unausgesetzte Reibereien und Unzuträg- lichkeitcn hervorbringcn. Kapitän Seemann aber war der Mann, welcher mit großem Ernst und, wo es angebracht war, auch mit einem guten Scherzworte alle Differenzen zu schlichten wußte, so daßuse Vatter", wie er von allen Leuten genannt wurde, bald der Abgott im sogenanntenSchlosse" war. Die Armenhäusler arbeiteten in großen Sälen und aßen gemein­schaftlich in den großen Erdgeschoßräumen des Hauses, die, lang und schmal, an das Zwischendeck eines Schiffes erinnerten. Auch die Kost war die schisfsübliche. Kapitän Seemann prü- sidirte dem Tische der Männer und seine Frau dem der Weiber. Er setzte mit Stentorstimme den Choralvers ein, welcher an­statt des Tischgebetes gesungen wurde.

Damals hatte noch die Anstalt ihren eigenen Friedhof, welcher die Leichen der zur ewigen Ruhe gegangenen Pilger ausnahm. Kein Pfarrer gab den Todten, die von Insassen des Hauses in platten, in der ganzen Stadt verhaßten Särgen man sollte zubenaut" darin zu Muthe sein, hieß es bestattet wurden, das letzte Geleit, so viele Umstände wurden mit den Armen nicht gemacht. Kapitän Seemann aber ging stets mit an die Gräberseiner Kinder" und betete ein lautes Vaterunser,denn," pflegte er zu sagen,man schall den Minschen nich inscharren, as wenn't en Hund weer". Die alten, krummenKuhlengräber" nickten ihm beistimmend zu.

Ich habe Seemann noch ungefähr zwanzig Jahre in seinen: Amte gekannt und ebenso lange sah ich auch den Rumpf der alten Constitution auf dem Strome als Kohlenmagazin dienend liegen.

Kapitän Seemann blieb rüstig und bei guter Kraft bis in sein achtzigstes Jahr hinein. Haar und Bart waren schnee­weiß geworden, aber in den Augen leuchtete noch ein Schein von den: Feuer, welches in der Jugendzeit aus ihnen gesprüht hatte. Alle, die ihn kannten, freuten sich des biedern Greises, der in der ganzen großen Stadt beliebt und geachtet war. An Pensionirung, welche ihm zustand, dachten weder er noch seine Vorgesetzten. Anfälle von Gicht, jener bösen Schiffer- l Plage, die geduldig ertragen wurden und rasch vorübergingen,