Heft 
(1885) 39
Seite
914
Einzelbild herunterladen

914

Deutsche Noman-Sibliothek.

Walde, dem Tummelplätze holder Zaubereien, schienen hier zur Wahrheit geworden.

Dem schönen, gefesselten Bilde gegenüber stand auf einer schmalen, gleichsam schwebenden Brücke ein junges, lebendes Geschöpf, ebenso regungs- und lautlos wie die steinerne Königstochter, aber trotzdem strahlend von innerer Wärme, innerem feurigem Leben. Es war die achtzehnjährige Lady Nancy Harleigh, Lord Oxford's Tochter erster Ehe.

Unbemerkt hatte sie sich fortgestohlen aus dem hohen, boisirten Speisesaale, wo die Eltern mit den Frühstücksgästen über die Emanzipation irischer Katho­liken und über Napoleon's Feldzüge in Preußen sprachen.

Fort in die Einsamkeit, in das Traumleben zurück!

Mehr fliegend als gehend hatte die leichtfüßige Brünette den Lieblingsaufenthalt erreicht; ein Buch, in blauen Sammet gebunden, war ihr dabei nicht aus den Händen gekommen; auf das Geländer der Brücke gestützt, blickte sie in die mit Versen bedruckten Blätter hinein, ihre sonnigen Augen wurden feucht; ein tiefer Seufzer entglitt den holden Lippen, die zu tausend Freudenküssen einluden.

Woher der Reiz, zu lesen, was ich auswendig weiß, was mir in's tiefste Seelenleben drang?" grübelte sie.

Unter ihr plätscherte ein Flüßchen, welches sich durch das Thal der Andromeda schlängelte; große, flache Steine, zwischen denen Schilf und grünes Rohr emporwuchs, lagen im Wasser.

Nancy aber träumte von einem Waldsee, an dessen Rande ein schöner, trauriger Jüngling unter einen: Jasminstrauch eingeschlafen war; über ihr feines, intelligentes Gesicht ging eine tiefe Röthe, die mit jedem Athemzug glühender wurde.

Lady Nancy," sagte eine sanfte Stimme.

Heftig schrak die Angeredete zusammen; sie hatte den jungen Mann, der plötzlich neben ihr stand, nicht kommen hören.

Mister Gordon!" Es klang fast wie ein Schrei, in der Verwirrung ließ sie das schön gebundene Buch fallen; es verschwand zwischen den Steinblöcken im Flußbett.

Mein Buch! Ich bin verloren! Nein, nein, Edward! Mister Gordon, bleiben Sie! ich selbst gehe."

Aber, Mylady, wofür wäre ich ein passionirter Angler?"

Der behende, braunlockige Edward Gordon schwang sich von der allerdings nicht besonders hohen Brücke hinab als wäre er ein Akrobat des Londoner Cirkus Franconi-Ducros und nicht ein Pfarrer gewesen.

Nancy aber, eigensinnig oder toll verwegen, glitt ihm nach auf abschüssiger Felsenkante, schon streckte sie die Hand nach dem Buche ans, welches auf eine trockene Stelle gefallen war, als ihr enges, griechisch geschnittenes Kleid an einem Ginsterstrauch hängen blieb.

Viktoria!" ries der dienstbeflissene jugendliche Reverend und faßte das ooi-xus äelieti,ist's indis­kret, den Titel zu lesen?"

Geben Sie, geben Sie," flehte die seltsam er­regte Nancy, welche währenddessen sehr blaß ge­

worden war. Es war zu spät, Mr. Gordon hatte bereits aus dem Titelblatte gelesen:Stunden der Muße von George Gordon Lord Byron, einem noch Minderjährigen. London 1807." Auch ihm war alles Blut aus den Wangen und Lippen entwichen.

Weh mir!" sprach er dumpf,er und überall er!" Mit abgewendetem Gesicht reichte er der jungen Freundin Byron's poetische Erstlingsversuche.

Guter Edward, vergeben Sie mir, ich bin ein recht ungeschicktes, einfältiges Mädchen!" In pein­licher Verlegenheit stand Nancy, das Buch fest gegen die Brust gedrückt, als befürchte sie, es abermals zu verlieren.

Edward suchte sich zu fassen und entgegnete innig:

Nein, beste Nancy, Sie sind das herzigste, gütigste Geschöpf unter der Sonne, nur fürchte ich"

Was, Edward?"

Sie sind lebhaften Temperamentes, enthusiastisch, großmüthig"

Er stockte und blickte tiefdenkend zu Boden.

Nun?" lispelte Nancy.

O," sagte Edward Zögernd,ich habe kein Recht, meiner kleinen Freundin die eigenen Besorgnisse mitzutheilen!"

Ich errathe Sie," entgegnete die Aristokratin plötzlich vollkommen ruhig,Sie sind derUeberzeugnng, auch mir habe es Lord Byron angethan, seit ich ihn von Weitem einige Male sah. Nun ja!" setzte sie entschlossen hinzu mit einer Hoheit in Ton und Mienen, als verschmähe sie es, dem brüderlichen Freunde statt unumwundener Wahrheit eine Lüge zu sagen,ja, der Eindruck, den ich empfing, war ein unbeschreiblicher! Aber geschworen sei's bei Ihrem eigenen Herzeleid, was ich ja theile, geschworen sei's, daß hier von verliebter Thorheit nicht die Rede ist. Ein selbstloses, hocherhabenes Gefühl, durchdrungen vom grenzenlosesten Mitleid, erfüllt meine Träume, mein Wachen, mein Denken und Trachten: ihm, dessen Klagen mein Herz durchzittern, helfen zu können, ihn zu erlösen, zu befreien, ihn zu er­retten!"

Aus dem jungen, unerfahrenen Mädchen war ein edles, opferfähiges, wunderbares Weib geworden, eine Heroine.

Sie schien Edward um einen Kopf gewachsen, er mochte wollen oder nicht, Nancy's Begeisterung imponirte ihm; denn in der That, so sprach keine Evastochter, so sprach eine Seherin! Ja, ihre adelige Gestalt, ihre geradlinigen, idealen Züge machten sie einer jungen Pythia gleich.

Wer nennt mir das Wort," ries sie, sehnsuchts­voll in die Ferne lauschend,die Schwermuth des Unbefriedigten zu bannen? Wo find' ich das Kraut, sein Weh zu lindern? Könnt' ich wenigstens mit einem einzigen hellaufzuckenden Freudenblitz seine Nacht erhellen und dann ohne Dank, ohne Lohn, nur mit dem Bewußtsein der guten That, im Schatten verschwinden!"

Engel!" sagte tieferschüttert der junge Geistliche, mit schwärmender Bewunderung Nancy betrachtend, aber er ist ja nicht würdig, Deine Hand zu küssen, den Saum Deines lilienweißen Gewandes zu be­rühren, Engel des Lichtes! Glauben Sie nicht seinem