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Deutsche Roman-Bibliothek
den Armen ostentatiöse Brodsuppen austheilt, den Mühseligen und Beladenen —"
George brach jählings ab; seine eifernden Randglossen schienen vor der Macht einer plötzlich auftauchenden Erinnerung zu verstummen. Er fuhr, leicht erschauernd, mit den Fingern seiner linken Hand durch seine vollen, weichen Locken. „Edward Gor- don!" Jetzt wiederholte er fast stöhnend diesen Namen. „War er es denn nicht? Ja, ja freilich, an jenem entsetzlichen Morgen; rings bleigraue, frostige Dämmerung, und ich hielt mich an ihm aufrecht, um nicht umzusinken vor wahnsinnigem Seelenschmerz! Sein Zureden klang gut und lieb — bah! Phraseologie! Nichts weiter! Schönrednerei eines süßlichen kleinen Salonpfaffen!"
Ingrimmig bissen die Weißen Zähne die Zuckende Unterlippe, und hastig überschlug der Lord Edward's poetischen Erguß. Noch ein Seufzen, ein vibrirendes, welches wie ein Wimmern klang, dann ein tiefes, langes Athemholen, als wichen Furien von ihm.
Wieder ergreift er die Feder und sucht nach einem Weißen Blatte in Arthur's Büchlein. Ha! ein Freudenschrei entfährt jetzt dem Einsamen! Er springt auf, das Album hoch in der Rechten emporhebend wie einen Glücksfund. Blaß geworden ist er, blaß vor unsagbarer Erregung, wie ein Feldherr, indem er eine entscheidende.Schlacht gewinnt!
Dem Freudenschrei folgt der Helle Ruf:
„Das bist Du!"
Glanztrunken, unersättlich betrachtet sein Auge ein Mädchenprofil, von Meisterhand in das Stammbuch eingezeichnet. „Meine Dryas," haucht, in weiche Rührung übergehend, George Byron. Ungeduldig aber stampft er mit dem Fuße, da er keine Unterschrift, kein Datum erblickt.
Und Arthur fort, auf mehrere Tage! „Süßes Antlitz, welches Mir Leitstern und Heimat ist, wie kommt Dein Abbild in Arthur's Buch? — Ja, wie?"
Sinnend und grübelnd und schwärmend saß er da.
„Es ist ein Phantasiebild," beschwichtigte er seine stürmenden Gedanken und Wünsche, „ach, war denn mein Traum etwas Anderes, als eine Täuschung der Sinne?!"
Und das lampendämmernde „Grab" weitete sich zum rosig überhauchten Himmelsdom. Die Wände verschwanden wie in den Feenmärchen; blühende Jasminsträucher umgaben den in einen Schwärmer verwandelten Satiriker. Im See plätscherten Schwäne zwischen hin und her wiegenden Nymphäen. Wieder umfing ihn die Zaubersphäre des vorhergehenden Abends, deren Magie durch die grotesken Ereignisse des Tages verweht worden waren, wie Blütenstanb durch unliebsame Berührung.
Mechanisch griff George nach einer kleinen Schatulle aus Sandelholz, die auf dem Schreibtisch vor ihm stand, und suchte darin unter Papieren, Petschaften, Ringen und Münzen nach einem kleinen Futteral, welches er öffnete und eine darin enthaltene, schön geschnittene Camee, ein Geschenk von Hobhouse, betrachtete. „Genau das Profil! Dasselbe Gestchtchen, so sein, so geistig, so wnnderlieb!"
Der Name „Janthe" war in griechischen Buchstaben KM Rande des röthlich weißen Steins eingravirt.
„Janthe!"
Von ferne klangen die Glocken aus dem Nachbarsdorfe Huknell, große Regentropfen schlugen gegen die Fensterscheiben.
„Janthe!"
Woher durchrieselt es uns ahnungsvoll beim Klange manch' wildfremden Namens? Wieso durchzucken uns Glutschauer, als wären gewisse Laute Zauberformeln zur Hebung nie geahnter Schätze? Talismane, welche unsere angeborene, verzehrende Sehnsucht stillen? Woher?
„Janthe, Janthe, ich sah Dich als Dryas, ich finde Dich hier, ich werde Dich unter den Lebenden finden," rief Byron, wie beschwörend beide Arme ausbreitend. „Denn ich weiß, ich fühle es: Du bist mehr als nur ein schöner Schein! Komm', Stunde der Offenbarung, laß die Träume Wahrheit werden!"
„Aha," rief der eintretende Charles, „das ist der Monolog für Harry, Du fleißiger George! Wir Anderen wälzen uns auf Bärenfellen und Faulbetten, Du aber opferst den Musen, daß es ringsum qualmt und dampft, denn — entschuldige! — Deine Leuchte ist im Begriff zu verlöschen."
Mathews machte sich an der Lampe zu schaffen. Byron schloß das Futteral der Camee, als gälte es, etwas Heiliges nicht zu profaniren. Ebenso klappte er das Album zu.
„Ach, Charlie," war Alles, was er zu sagen vermochte, „alas (Marlis!"
Der Freund blickte in die offen gebliebene Schatulle. „Potztausend, welch' Chaos birgt dieser Abgrund!" scherzte er. „Sieh' da, ein mitten durchgebrochenes Karneolherz!"
„Das treue Abbild meines eigenen Herzens."
„Ein Ring, dem der Edelstein entfiel."
„Also werthlos, wie alles Wesens Kern."
„Ein Abraxasstein."
„Soll gegen die Liebe schützen, wie das Geheimmittel, welches aus Seerosen gebraut wird, oder wie jene drei Blutstropfen des geliebten Wesens, welche die Kaiserin Faustina schlürfte, um sich von der Leidenschaft zu Roms schönstem Gladiator zu heilen."
„Und hier, schau', schau': eine Locke! Gesponnenes Gold ist dagegen glanzlos! Das Haar der Berenice, bei Gott!! Und mit rosenrother Seide umschlungen? George, man sollte kaum glauben, das Du so verteufelt sentimental bist! Oder begingst Du diesen famosen .Lockenraub' nur Deinem Hof-, Leib- und Magenpoeten Alexander Pope zu Ehren?"
„Still, ich bitte Dich," sagte Byron fast flehend, wie von einer seltsamen Angst ergriffen.
Charles aber hörte nicht darauf —
„Was Wunder, daß ein stählern Instrument Dein Lockenhaar vom schönen Haupt getrennt!"
rezitirte May's Geliebter. „Na, so zimperlich wie Belinde wird Deine Blondine nicht gewesen sein. — Aber, George, was ist geschehen? O, ich Ungeschickter habe Dich verletzt. — Du bist außer Dir!"
Zu seiner höchsten Bestürzung sah Charles, daß Byron seiner Thränen nicht Herr werden konnte und stumm in sich hinein schluchzte.
„Vergib mir meine Unzartheit," bat überwallend der feurige Charles, „ich tastete plump in Deine