Heft 
(1885) 40
Seite
953
Einzelbild herunterladen

Sherrvood von Julius Grosse.

953

Kherwooö.

Roman

von

IrrLius Krrosse.

(Fortsetzung.)

verging noch ein Vierteljahr. Die Nachrichten aus Petersburg, die wir sonst durch Zeitungen und andere Mittheilungen empfingen, lauteten haarsträubend. Der Riesenprozeß dauerte nun fast ein halbes Jahr, und immer noch war kein Ende ab- Zusehen.

Ein bleiernes, dumpfes Schweigen, kaum anders als in Frankreich zur Zeit der Schreckensherrschaft, lastete über Rußland.

Kaum eine angesehene Familie gab es, die nicht durch ihre Söhne oder irgend einen Verwandten in den drohenden Prozeß verwickelt war. Es bestätigte sich, daß über zweihundert Offiziere in der Peter- Paulsfestung eingekerkert waren. Zu ihren Richtern war eine Kommission aus den ersten Personen des Reichs niedergesetzt worden. Man nannte als Vor­sitzenden den Kriegsminister Tatitschef, als Richter den Großfürsten Michael, die Generale Diebitsch, Kutusow, Wenkendorf, Fürst Galitzin, General Tschernitscheff, Lewaschoff und den Oberst Adlerberg. Selbstver­ständlich blieb der Kaiser selbst der oberste Richter, und alltäglich wurden ihm die Akten der Unter­suchung vorgelegt. Ich erinnere mich auch, daß ein Gerücht zu uns drang, der englische Gesandte habe gewagt, ein Fürwort für die Verurteilten einzu­legen, aber der Kaiser habe geantworet:Ich werde Europa in Erstaunen setzen."

Ueber das Endergebniß verlautete erst Ende Juli, daß am dreizehnten dieses Monats das Strafgericht begonnen. Obwohl der Gerichtshof wirklich über sechsnnddreißig Angeklagte das Todesurtheil ausge­sprochen, wurde es aus kaiserlichen Befehl nur an fünf Unglücklichen vollstreckt. Ihre Namen sind in die Tafeln der Geschichte eingetragen. Es waren Oberst Paul Pestel, Lieutenant Konrad Rylejef, Oberst Sergius Murawiesf, Lieutenant Michael Bestu- scheff und Lieutenant Kachowski. Alle Uebrigen jener Sechsunddreißig, sammt einer weiteren Anzahl von Viernndachtzig, wurden zu verschiedenen Graden von Verbannung nach Sibirien verurteilt, weitaus die Mehrzahl zu lebenslänglicher. Die schuldigen Regi­menter selbst wurden in den Kaukasus geschickt, um ihre Schuld im Kampf gegen die Bergvölker Zu sühnen.

Seitdem verstummte jede weitere Botschaft. Der Hochsommer war gekommen mit sonnigem Dust und Glanz, seiner Schwüle und Segensfülle, ja, wir hatten Frieden und Stille um uns, aber es war die

Deutsche Roman-Bibliothek. XII. 20.

Stille des Grabes, des Schweigens und Schreckens. Keiner wagte mehr ein offenes Wort wie sonst. Jeglicher vollbrachte sein Tagewerk wie ein mecha­nischer Automat und schätzte es noch für ein Glück, wenn er am folgenden Tage die Gesichter der Freunde wiedersah.

Von Sherwood hatte ich seit vollen sechs Monaten keine Kunde mehr. Immer kehrte die Frage wieder: Was war aus ihm geworden? Lebte er noch oder war er mit den Verbannten nach Sibirien geschickt? Oder hatte ihn die Nemesis in anderer Weise ereilt? Und was sollte dann aus seiner Frau werden? Oft mußte ich an die schöne, interessante Dulderin denken, deren Lebensglück dem Abenteurer zum Opfer ge­fallen war. Und Tatiana und Wadkowski? Sein Name befand sich ebenfalls unter Denen, die auf Lebenszeit zu den Zwangsarbeiten in den Bergwerken von Nertschinsk verurtheilt waren, aber seine Frau? War sie ihm wirklich in die traurige Einöde gefolgt oder in das väterliche Haus zurückgekehrt? Ost war ich im Begriff, um Auskunft nach Stanitza Tarussa zu schreiben, aber eine gewisse Scheu, fremde Wunden zu berühren, hielt mich davon ab.

Da geschah es Anfangs August, daß ich eines Tags ein Schreiben vom Popen Wassili Smirnoff aus Tarussa erhielt. Es waren nur wenige, aber ein­dringliche Zeilen.

Unter Anderem schrieb er:Da ich Sie doch als alten Hausfreund unserer gnädigen Herrschaft betrachten darf, wollte ich Ihnen schon lange Mit­theilungen machen von den traurigen Verhältnissen auf dem Schlosse. Unser verehrter General Iwan Uschakoff siecht sichtlich dahin. Er ist nicht eigentlich körperlich krank. Man sieht ihn im Park, auf dem Hof und in den Ställen; wenn er auch nicht mehr auf die Jagd geht, weiß er sich doch zu schaffen zu machen, aber er ist seltsam geworden und er treibt wunderliches Zeug. Noch in voriger Woche zum Beispiel ließ er sämmtliche Gartenmöbel mit schwarzer Oelfarbe anstreichen und half selbst dabei. Die Flucht seiner ältesten Tochter mit dem Verhafteten, die entsetzlichen Ereignisse in Petersburg und die Reihe von Schlägen, womit uns der Himmel heim­suchte, scheinen seine geistige Kraft völlig gebrochen zu haben. Von der Wirkung jener Erlebnisse waren Sie ja im Winter selbst Zeuge. Ich fürchte nicht ohne Grund, daß die Tage des alten Herrn gezählt sind. Von Frau Nadjeschda schreibe ich Ihnen nichts; sie waltet wie eine Heilige und trägt ihr betrüb- sames Geschick mit christlicher Demuth und Geduld.

120