Die tolle Betty von Hans Wachenhusen.
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„Bah!" Er warf den Kopf auf. „Sie glaubt natürlich, was ich ihr gefagt, und dabei mag's bleiben, bis . . . Der Junge wird eine Stelle in einem Geschäft finden und das Mädchen..."
Er wollte nicht daran denken, griff nach Hut und Stock auf dem Tisch und warf noch einen hastigen, zerfahrenen Blick im Zimmer umher wie Einer, dem der Boden unter den Füßen brennt, einen Blick, der über Alles hinweg schweifte und nichts erfaßte, am wenigsten, was in feiner nächsten Nähe.
„Du hast Alles?" Auf der Schwelle stehend, fuhr er zur Brusttafche. Beruhigt drückte er den Hut tiefer über die Stirn und schritt hinaus über den Korridor.
Gabriele, als sie ihn die Thür des letzteren hinter sich schließen hörte, erhob das Antlitz mit von Thronen gefeuchteten Augen. Sie lauschte, dann trat sie an's Fenster. Sie sah, wie er sich auf dem benachbarten Platz in eine Droschke warf, und ohne einen Blick znrückzuwerfen, davon fuhr.
Ihr war's, als versinke Alles um sie her, als neigten sich die Häuser drüben, als weiche der Boden unter ihren Füßen.
„Moritz!" schrie sie auf, die Arme nach ihm ausstreckend. Als aber der Wagen verschwand, klammerte sie sich an das Fensterbrett. Sie wollte aufschreien, die Stimme versagte ihr. Sie schwankte in's Zimmer zurück. „Mir sagt's eine Ahnung, er kommt nicht, um uns, um den Kindern Adieu zu sagen! Er läßt uns herzlos zurück ohne Mittel, ohne. . . Mein Gott, mein Gott, was wird aus uns, wenn es ihm nicht gelingt! Und er hatte keine Hoffnung mehr, ich sah's ihm an... Allein mit den Kindern und hülflos!"
Die Verzweiflung warf sie wieder auf den Sessel; vor sich hinbrütend mit im Schooß gefalteten Händen saß sie da.
Ein Geräusch im Korridor erschreckte sie. Er war es nicht. Aber Niemand durfte sie sehen. Sie flüchtete in das Arbeitszimmer des Gatten, das ihr Fuß selbst in seiner Abwesenheit gewissenhaft gemieden, weil er dieß so geboten. Er war ja nicht mehr da. . .
„Es ist Lola! Was soll ich dem Kinde sagen, wenn sie nach ihrem Vater fragt!" Unruhig stand sie da. Ihr Blick fiel auf die ihr wohlbekannte kleine Reisetasche Goldmann's, die dieser über die Schulter zu hängen gewohnt, wenn er verreiste. Er hatte sie vergessen.
„O, er wird dennoch wieder kommen! Er muß ja! Er pflegt seine Korrespondenz darin mit sich zu tragen."
Ein Gefühl des Trostes Zog in ihr Herz. Mit der Pietät, die sie als Kaufmannstochter für Alles hegte, was ihres Gatten Geschäfte betraf, ruhte ihr Auge ans dem kleinen Gegenstand. Sich in der Ecke niederlassend, bis das Mädchen sein Zimmer gesucht haben werde, versank sie in ihre trüben Gedanken.
Und wenn er heute noch einmal wieder käme, was änderte das an ihrer Lage? Er hatte ihr jede
nähere Auskunft über die seinige vorenthalten, und doch schien's ihr jetzt unmöglich, daß er seine ganze Existenz jenem Londoner Hause auvertraut.
Wieder eine Stimme draußen im Korridor. Es war der Sohn, der aus der Schule kam und in der Küche nach dem Vater fragte.
Nach dem Vater! Wie oft sie nach ihm noch fragen mochten!
Gabriele erhob sich, sie schaute trostlos umher in diesem Gemach, das fortab veröden sollte. Die Zeit war lange dahin, wo sie ihn noch an jenem Arbeitstische Zu sehen gewohnt. Ihr Blick siel wieder auf die Reisetasche. Das Schlüsselchen steckte in derselben. Unbewußt schritt sie in der Richtung, hielt aber verzagt inne.
Der Gedanke, in seine Geschäftsgeheimnisse zu dringen, war ihr stets fremd gewesen; sie schrak auch heute davor zurück; aber das angstvolle Be- dürfniß, Zu erfahren, wie das Alles so schnell hatte kommen können, die Ueberzengung, sie habe ein Recht zu wissen, was auch ihr Vermögen verschlungen, trieb sie vorwärts.
Mit Zitternder Hand, furchtsam lauschend, hob sie die Tasche von dem Stuhl, fiebernd, mit klopfenden Pulsen zog sie den Inhalt hervor, schloß die Thür, warf die Papiere auf den Tisch und öffnete hastig eins nach dem andern.
Fremd und zum Theil unbegreiflich war ihr Alles, aber starrer, fast gläsern hafteten ihre Augen auf dein Papier, bis eins derselben in ihrer Hand so heftig erzitterte, daß die Linien der Schrift sich dem Auge verwischten. Ihre Hand sank, die andere suchte eine Stütze vor sich auf dem Tischrand. Ihre Zähne schlugen aus einander, keinen Laut gestattend.
So stand sie sekundenlang. Dann von einem Fieberschauer gerüttelt, mit versagenden Knieen, fuhr sie mit den Händen über das vor ihr Liegende, raffte es zusammen, that es in die Tasche zurück und an der Wand, an der Thür entlang tappend, hängte sie dieselbe an ihren Platz. Und weiter, die Hand auf der Tapete, schleppte sie sich in den Hintergrund des Gemachs, öffnete leise die zu des Gatten Schlafzimmer führende Thür und sank lautlos, das Antlitz verhüllend, aus das seit Monden nicht berührte Bett.
Erst ein heftiges Pochen an der von ihr geschlossenen Thür des Arbeitszimmers weckte sie aus ihrer Betäubung.
„Der Papa soll schon wieder verreist sein, aber zum Teufel, wo steckt denn die Mama?" hörte sie des Sohnes ungeduldige, herrische Stimme.
Sie erzitterte auch unter dieser. Sie war ja seit Kurzem durch ihre Schwäche die Sklavin ihrer Kinder, wenn sie daheim, ein Gegenstand ihrer Kritik, wenn sie draußen. Der Tochter Ansprüche vermochte sie wohl in ihre Grenzen zu weisen, nicht aber die des Sohnes, dem eines Vaters kräftiger Mille fehlte.
Mit gefalteten Händen und blutendem Herzen lag sie, bis es wieder still ward.
„Ich darf mich den Kindern jetzt nicht zeigen!" flüsterte sie wie vernichtet. „Gott behüte sie vor der Schmach, und dennoch wird sie nicht abzuwenden sein!" (Fortsetzung folgt.)