Feuilleton.
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„Ich sterbe, wenn ich Dich nicht Wiedersehen kann. Soll ich so jung dem Tod zur Beute werden, so gönne mir doch wenigstens, Dich manchmal an's Herz zu drücken .. ."
„Nein, nein, Du darfst Dich der Gefahr nicht aussetzen!"
„Fürchte nichts! Sie sangen mich nicht ein. Ich entschlüpfe ihnen, und wenn mich alle ihre Spürhunde umstellen!"
Ihre Lippen vereinigten sich zu einem langen Kusse. Sie hörten in diesem Augenblicke nichts, wie das Pochen ihrer Herzen. Ein Mäuslein huschte über die Parkete und nagte an den zerrissenen Tapeten der Wand. Sie hörten es nicht. Da erscholl Hundegebell im Garten. Boriska riß sich aus den Armen des Geliebten.
„Es kommen Leute," flüsterte sie. „Man wird mich auch oben vermissen. Lebe wohl!"
„Wann sehe ich Dich wieder?"
„Wenn uns bessere Sterne leuchten," hauchte sie. Nochmals drückte sie die glühenden Lippen auf seinen Mund und dann eilte sie fort.
Der Betyar trat den Rückweg an und erreichte unbehindert das dunkle Güßchen. Aber sein Roß war fort. Vergebens pfiff er ihm und rief es laut beim Namen. Es hatte sich vermuthlich losgerissen und verlaufen — der Bursche stieß ärgerlich einen Fluch aus. Dann ging er sein Roß suchen, und zwar auf dem Wege, den er gekommen war — vielleicht sehnte sich das kluge Thier nach dem Stalle zurück, den es vor zwei Stunden verlassen; und so pilgerte Komlös Vincze rasch entschlossen zu Fuße zur Csarda am Theißufer zurück. Bis zum Morgen mußte er wieder im Besitze seines Pferdes sein.
Er kam indessen nicht bis dahin. Eine Schaar Gendarmen umringte ihn beiläufig eine Stunde Weges von der Stadt. Vergebens schoß er seine Pistole ab. Er traf Niemanden und wurde entwaffnet. Die Gendarmen führten auch sein Pferd am Zügel, das sie in der Nähe der niedergebrannten Schenke herrenlos gefunden. Sie hatten das Roß Wohl erkannt und suchten den Besitzer. Kein Anderer als er konnte der Brandstifter sein.
Man legte ihm Fesseln an und brachte ihn zurück nach Szegedin. Das Statarialgericht trat am nächsten Tage zusammen, ihm präsidirte der Stadtrichter von Szegedin, um den gefangenen Betyaren abzuurtheilen.
Komlös Vincze leugnete entschieden, die That verübt zu haben. Der alte Jakob, der mit Mühe aus seinem brennenden Hause entkommen war, bestätigte, daß Niemand außer dem Burschen und der alten Zigeunerin in der vergangenen Nacht in seinem Hause gewesen war.
„Man suche die alte Zigeunerin," sagte der Betyar. „Nur sie kann das Haus angezündet haben, aus Rache, daß sie vom Hofe fortgetrieben worden war, wie der Wasserschlauch selber erzählt."
Der Stadtrichter schüttelte das Haupt.
„Eine alte Zigeunerin suchen? Das heißt den Wind suchen! Das ist eine schlechte Ausflucht, mein Sohn."
„Ich war nicht dort."
„So sage uns, wo Du warst. Wo hast Du die Stunde verbracht, da das Haus in Flammen aufging?"
Der Räuber senkte das Haupt. Ein Wort hätte ihn retten können, ein einziges Wort. Boriska würde ihn nicht Lügen gestraft haben. Sollte er aber verrathen, daß sie mit ihm im dunklen Gartenpavillon des väterlichen Hauses zusammengekommen sei in nächtlicher Stunde? Mit ihm, dem Ausgestoßenen aus der Gesellschaft? Verrathen — dem eigenen Vater, den vornehmen Mitgliedern des Gerichts? Sollte er sie für ihre Liebe an den Pranger stellen? Ihr Leben mit Schimpf beladen? Ein Tod ist des andern werth. Lieber wollte er ihn erdulden.
„Ich kann, ich darf nicht sagen, wo ich war. Aber ich habe die Csarda nicht angezündet."
Der Stadtrichter zuckte die Achseln. Die Mitglieder des hochlöblichen Gerichtes lächelten verächtlich. Der Betyar konnte allerdings der That nicht überwiesen werden — doch waren die Verdachtsmomente ernster Art. Man verurtheilte ihn auch nicht zum Tode — „nur" zu zwanzig Jahren schweren Kerkers.
Zwanzig Jahre Kerker!
Man legte Komlös Vincze Fesseln an und begrub ihn in den Kasematten der Szegediner Festung. Zwanzig Jahre trug er seine Ketten. Er verkehrte mit Niemandem wie dem alten Kerkermeister, der ihm seine Nahrung brachte. Er war einer der fügsamsten, folgsamsten Sträflinge. Er machte keinen
Fluchtversuch und es kam keine Klage über seine Lippen. Stumm und ergeben trug er sein Schicksal. Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit und wohl geeignet, ein Herz zu brechen. Komlös Vincze aber erhielt ein Hoffnungsstrahl, der durch die engen Gitter des kleinen Fensterchens seiner dunklen Zelle fiel: daß auch zwanzig lange Jahre vorübergehen müßten.
Und sie gingen vorüber.
Der Kerkermeister löste ihm seine Fesseln. „Es thut mir leid, daß Ihr schon scheidet, so sehr es mich Euretwegen freut."
„Hm," sagte der befreite Gefangene, „ich habe mich auch schon an meine Ketten gewöhnt. Wenn ich wieder zu Euch käme, möchte ich wieder nur diese tragen. Legt sie für mich zur Seite ..."
„Wollt Ihr wiederkommen?"
„Wer weiß ... Ich trug sie zwanzig Jahre lang ohne Schuld — wenn man ohne Schuld dazu kommen kann, ist man ja niemals vor denselben geschützt."
Komlös Vincze blieb einige Tage bei dem Kerkermeister, der ihn so lieb gewonnen hatte, daß er ihn wie einen Freund behandelte. Der alte Mann stattete den entlassenen Sträfling mit Kleidern aus und gab ihm sogar etwas Geld, als er schied. Der ehemalige Betyar war noch immer ein stattlicher Mann, wenn auch sein Haar ganz grau geworden. Er machte sorgfältig Toilette, bevor er die Festung verließ. . .
-k-
Seine Erkundigungen waren bald eingezogen. Aus der einst vielgefeierten Boriska war Fräulein Borcsa geworden. Sie hatte nicht geheirathet und alle Bewerber zurückgewiesen. Nach dem Tode des Vaters wurde sie die Erbin seines Vermögens und lebte zurückgezogen in seinem alten Hause, ein altes, wie man sagte, sehr stolzes Fräulein mit seltsamen, altjüngferlichen Grillen.
Nun stand er wieder vor ihr.
„Erkennst Du mich nicht?"
Sie sah ihn fest an und wechselte die Farbe. Dann wandte sie das Haupt ab.
„Ich kenne Dich nicht."
„Ich bin es, Boriska ..."
Sie erzitterte, als er ihren Namen nannte.
„Ah Du, der Brandstifter?"
„Ich bin kein Brandstifter. Ich ließ den Verdacht auf mir lasten, um Dich nicht zu verrathen .. ."
„Du hast mir das Leben vergiftet. Ich wagte nicht froh zu werden, so lange Du lebtest ..."
„Wenn Du mich noch liebst —"
„Dich? Lieben? Dich, den Brandstifter, den entlassenen Sträfling, den Elenden, der zwanzig Jahre lang Ketten trug?!"
„Um Dich, um Dich allein!" rief er leidenschaftlich.
„Fort, fort!" rief sie, indem sie sich mit zornsprühenden Augen erhob. „Ich will Dich nicht mehr kennen. Fort — oder ich lasse Dich von den Knechten die Treppe hinabwerfen und von den Hunden zum Hofe hinaushetzen!"
„Boriska! . . ."
Sie ergriff die Klingelschnur.
*
Spät am Abend desselben Tages pochte Jemand an die Thür des Kerkermeisters in der Szegediner Festung. Der Alte öffnete und war sehr erstaunt, Komlös Vincze vor sich zu sehen. Er führte ihn in seine Stube, wo der ehemalige Sträfling auf einen Stuhl niederfiel.
„Ja, ich bin wieder da . .. und werde Dich nicht mehr verlassen . . . Hast Du meine Ketten noch bei der Hand? Lege sie mir wieder an. Du darfst es thun, ich habe ein Weib erschlagen ..."
Der Alte legte ihm die Ketten wieder an und führte ihn vor den Richter.
Komlös Vincze erzählte dann vor ihm und später vor dem Gerichte die ganze Geschichte seines Lebens und gestand unumwunden ein, die ehemalige Geliebte ermordet zu haben. Das Gericht fand, daß in diesem Falle viele mildernde Umstände vorliegen. Man verurtheilte ihn zwar zum Tode, empfahl aber seine Begnadigung. Er wurde auch begnadigt — zu lebenslänglichem Kerker.
Er trug die alten, liebgewordenen Ketten nicht lange. Seine Kräfte verfielen rasch, und eines Morgens fand man ihn todt in seiner Zelle. In seinen letzten Tagen phantasirte