Issue 
(1885) 46
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Feuilleton.

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handeln, weil Sie Bettina lieben, sie aber will blind­lings in ihr Verderben rennen; ihre Phantasie ist krank. Sie werden einen harten Stand haben, denn sie ist eine starke, schwer Zu bändigende Natur. Ich will diesen Kampf nicht sehen, denn mir steht ein solcher mit dem eigenen Schicksal bevor... Leben Sie wohl! Es ist spät!" Sie wandte sich ab.

Walbeck hatte innerlich erzitternd das Mädchen angehört. Warnung und Zweifel an seinem Ge­lingen enthielten ihre Worte.Es ist spät!" hatte sie mit so eigenthümlicher Betonung ausgesprochen, und das mahnte ihn, daß er nicht Zu spät kommen solle.

Nur Eins noch!" rief er.Werde ich Sie Wiedersehen?"

Vielleicht!" Sie verschwand, ohne zurückzu­schauen, in dem Kabinet.

Jobst stürmte mit verworrenen Sinnen hinaus. Mit Ueberstürzung und zitternden Händen kleidete er sich um. Ein harter Gegenstand fiel dabei aus dem Koffer auf den Boden; er hob ihn auf und steckte ihn zu sich.

Hals über Kops, als gälte es, sich in einen Ab­grund zu stürzen, rannte er zum Hotel hinaus.

(Fortsetzung folgt.)

Feuilleton.

Ziffern und Iahten.

Don

B. Gulot.

Wenn es etwas gegeben hat, das ich weniger begreifen konnte als alles Andere, das mir stets ein siebensiegelverschlossenes Buch geblieben, so ist es die Mathematik gewesen. All' die Ziffern und Zeichen, Minusse, Plusse und Ixe, Quadrate, Zirkel, Tangenten. Logarithmen und Kubikwurzeln haben sich mir nie verständlich zu machen gewußt. Die Addition ist die einzige Nechenform, welche mich nicht abschreckt; Divisionen sind mir schon antipathischer und sind gar Dezimalbrüche Labei, so will ich absolut nichts mehr davon wissen. Der pythagoreische Lehrsatz hat sich mir nur eingeprägt dank eines Bildes in denFliegenden Blättern", in welchem Pythagoras auf der Sonntagspromenade vorgestellt war, in Begleitung seiner Gemahlin, der alten Frau Hypotenuse, und seiner beiden auf Urlaub gekommenen Söhne in Kathetenuniform. Dennoch will ich das gegenwärtige Kapitel den Zahlen widmen, um der Hochachtung, ja der Begeisterung Ausdruck zu geben, welche mir die Philosophie der Zahlen und die Poesie der Zahlen einflößt!

Ziffern erfreuen sich zwar keines liebenswürdigen Rufes, und Poesie wird ihnen schon ganz und gar abgesprochen. Trocken",langweilig",prosaisch",kalt", das sind so die Attribute, mit welchen diese Verkannten zumeist genannt werden. Gegen solche Anklagen könnten sie ausNichtschuldig" plai- diren; ja sie könnten vor Allem zu ihrer Vertheidigung an­geben, daß sie überhaupt nicht existiren. Ziffern sind an sich nichts; sie sind nur die Zeichen von Zahlen. Und Zahlen sind an sich erst recht nichts denn sie sind nur die Form unserer Auffassung vom Verhältniß der Dinge. Kann man sich zum Beispiel ein absolutes, für sich bestehendes, abstrahirtes Fünf" denken? Das gibt es in der ganzen Welt nicht. Wohl haben wir an der Hand einen Daumen-, einen Zeige-, Mittel-, Gold- und kleinen Finger aber daß diese Dinge zusammenfünf" bilden, das ist nur unsere vergleichende Proportionsidee. Das Fünfsein unserer Finger füllt weder als Ereigniß die Zeit, noch als Substanz den Raum aus es ist also überhaupt nicht. Aber trotz dieser zeitlichen und räumlichen Nichtexistenz der Zahlen ist doch deren Ersinnung der schönste Triumph des menschlichen Verstandes, und deren Anwendung bietet die einzig unumstößliche Sicherheitsgewinnung: Zahlen beweisen.

Was wir in Ziffern auszudrücken vermögen, ist eine der Wirklichkeit abgerungene Erkenntniß, auf deren nimmerschwan­kende Beharrung wir fortan rechnen können. Was einmal gemessen, gewogen und gezählt ist, das ist auch wenigstens nach einer Seite hin erkannt und zwar auf eine Weise, welche keinen Zweifel mehr zuläßt. Das ist das Schöne an den in Zahlen zu formulirenden Erkenntnissen, daß sie eine feste, nicht den geringsten Widerspruch zulaffende, leidenschafts­lose Sicherheit mit sich führen. Annahmen, die sich nicht auf

gleiche Selbstevidenz berufen können, sollten niemals apodiktisch auftretcn, sich nicht auf Ueberzeugungseifer stützen wollen, sondern einfach sich als Hypothesen, als Vermuthung, als gute Hoffnung oder sonst mit einem bescheidenen Namen einführen, nicht aber, je unsicherer sie sich fühlen, desto lauter betheuern, daß sieWahrheit" seien. Der Triumph der Mathematik wird vollständig erglänzen, wenn die Methode, welche der rechnende Geist zu der Untersuchung des Materiellen gebraucht, auch in analoger Weise auf die Ergründung ideeller Wahr­heiten angewendet werden wird. Die Formeln müßten natür­lich verschieden sein; denn mit Ziffern, welche Schwere, Aus­dehnung und Anzahl körperlicher Dinge bezeichnen, ließe sich das Immaterielle nicht adäquat ausdrücken. Ich will nur sagen, daß die Methode, und besonders die Strenge derselben, eine gleiche sein sollte. Die Analogie fällt in die Augen:

Logik ist weiter nichts, als die Arithmetik des Verstandes. Ein rationeller Schluß und eine Regel de Tri beruhen auf demselben Verfahren. Jede unsinnige Behauptung ist ein geistiger Rechenfehler. Ob ich sage, 5 und 3 macht 17, oder ob ich behaupte, daß der Freitag ein Unglückstag sei: in beiden Fällen habe ich das Verhältniß der Dinge zu einander nicht richtig verstanden. Ursache und Wirkung stehen zu einander in genau so mathematisch unfehlbaren Beziehungen, wie die zifferbaren Gewichte und Ausdehnungsproportionen der Körper. Freitag und Unglück stehen aber zu einander in gar keiner Beziehung: sie in Zusammenhang bringen, ist sogar ein noch größerer Fehler als das angeführte5 und 3 macht 17", denn es fehlt das gemeinsame Maß; es ist, als würde man sagen:5 Ellen und 3 Pfunde betragen 17 Stunden."

Leider ist die Absurdität der gangbaren Jdeenrechenfehler nicht immer so auffallend und fo leicht nachweisbar, wie die mit Zahlen begangenen Jrrthümer; aber man kann mit Sicher­heit annehmen, daß jede falsche Behauptung auf irgend einen unlogischen, also geistig falsch berechneten Satz zurückzuführen ist. Mit den Zifferrechnungen nimmt man es sehr genau. Zeigt sich da der geringste Widerspruch im kleinsten Bruchtheil eines Facit, so wird so lange nachgerechnet, probirt und der Fehler gesucht, bis sich der Widerspruch gelöst hat, weil man gewiß weiß, daß ein solcher nicht in Wirklichkeit bestehen kann, daß daher ein Jrrthum vorliegen muß. Aber, großer Gott, wie viele Lehrsätze, Glaubenssätze, Lebensansichten und der­gleichen läßt man ruhig stehen, trotz der in ihnen sich stoßen­den, einander aufhebenden Widersprüche!

Kehren wir zu den Zahlen zurück. Auch Gerechtigkeit, dieser hohe ethische Begriff, ist moralisches Gleichgewicht, mithin ein Zahlenverhältniß. Das Verständniß der Unendlichkeit und Ewigkeit wäre uns, da diese Dinge ganz außerhalb unserer Erfahrung liegen, nie zugeführt worden, wenn unser Geist die Zahlen nicht ersonnen hätte. Doch nachdem er mit diesen zu denken begonnen, anfangs nur die Finger feiner Hand, später vielleicht die Schafe feiner Heerde zählend, hat er immer mehr und mehr damit verglichen, aneinandergereiht, kombinirt, sum- mirt, und erkannt, daß zu jeder Ziffer noch eine hinzugedacht werden kann, und noch eine daß überhaupt gar kein Grund