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Deutsche Noman-Sibliothek.
gespritzt. Die Absätze waren kürzer; in keinem fehlte es an ausgestrichenen Worten, an nachträglichen Verbesserungen. Verfall und Schwäche! Mit trauriger Deutlichkeit spiegelte sich das Greisenalter, das Schwinden der Kräfte, das nahende Ende in den kleinen schwarzen Zeichen wieder, die dem flüchtig Hinblickenden von dem grauen Papier entgegenstarrten.
Arthur wandte sich znm Anfang des Heftes zurück und begann zu lesen. Eine Art von Schauer durchrieselte ihn, als er den ersten Satz überflogen hatte. Er hielt des Vaters Tagebuch in den Händen, angefangen vor zwanzig Jahren, am Tage nach Ar- thur's Exilirung. Unwillkürlich schloß er das Heft; heute mochte, heute konnte er sich nicht in den Inhalt vertiefen; es fehlte ihm die Sammlung, es fehlte ihm die weihevolle Stimmung, worin allein solch' intime HerZensergießungen Verstorbener empfangen werden dürfen.
Doris kam. Ob sie im Speisezimmer ferviren lassen solle? Ja wohl, gewiß. Eine Ortsveränderung war Arthur Bedürfnis;. Aber als er hinüber humpelte in das kleine Gemach mit der alten dunkelbraunen Ledertapete und dem offenen englischen Kamin, nahm er doch des Vaters Tagebuch mit sich. Es fröstelte ihn; bei dem langen Stillesitzen, Denken und Schreiben hatte sich der Blutumlanf in seinen Adern verlangsamt. Rasch trank er ein Glas Wein, um warm zu werden. Der auswartende Diener erwähnte, es sei die Sorte, welche der selige Herr sich immer bei Tisch habe anftragen lassen. Arthur kam sie matt vor; ihn verlangte nach einem feurigem Gewächs, das die Empfindung des Unbehagens schleuniger aus ihm verscheuchte als des sparsamen Vaters leichter Tischwein. Der Diener holte eine Flasche Burgunder herbei. Davon, berichtete er, habe Herr Ueberweg im letzten Jahre jeden Morgen, Punkt elf Uhr vom Comptoir herüberkommend, einen Becher voll getrunken. Aus dem Kredenzschrank nahm er das Glas, welches Herr Ueberweg regelmäßig benützt hatte, und stellte es vor Arthur hin. Es war ein geschliffenes, farbloses Glas ohne Fuß, mit einem mattweißen Bildchen darauf. Das Fräulein habe es dem Herrn geschenkt, erzählte der Diener, er könne nicht sagen, in welchem Kurort; es sei vor seiner Zeit gewesen. Arthur nahm es aus; zweifelsohne war das Glas, ein mittelmäßiges Produkt böhmischer Industrie, in Honnef gekauft; das Bildchen sollte Drachenfels und Rolandseck vorstellen. „Ich will's in Gebrauch nehmen," sagte Arthur. „Von nun an soll's mein Trinkglas sein; ich werde kein anderes benützen."
In Schweigen speiste Arthur, kaum beachtend, was er genoß. Der Diener, mit gemessenen Schritten zu- und abgehend, brachte endlich Kaffee und Zeitungen und ließ den neuen Hausherrn allein. Gewohnheitsmäßig nahm Arthur die Blätter aus. In den Anzeigen suchte er nach bekannten Namen; hin und wieder fand er einen und verknüpfte ihn mit seinen Erinnerungen. Nachdem er dieß eine Weile getrieben, ries er aus: „Kindische Beschäftigung!" und warf den Bogen auf den Tisch, ohne die Arbeit des Redakteurs darauf eines Blickes zu würdigen. Nun zog das blaue Heft seine Augen aus sich; er griff
darnach, zog es heran, besann sich und schob es wieder zurück. Nach einiger Zeit wanderte zum zweiten Male seine Hand hin; dießmal behielt er's bei sich. Mit entschlossener Miene setzte er sich zurecht, gab seinem lahmen Bein eine bequeme Lage und vertiefte sich in das Tagebuch seines Vaters.
Langsam, sehr langsam las er. Zuweilen blickte er aus und im Zimmer umher, wie um sich zu überzeugen, daß er allein sei. Dann nahm hinten im Winkel das Muster der Ledertapete die Züge seines Vaters an; er mußte den Schirm von der Lampe entfernen, um den Spuk zu verjagen. Wie der Abend vorrückte, horchte er von Zeit zu Zeit über dem Lesen in's Haus hinaus; es war ihm, als ob Klara heimkommen müsse. Aber er beendete die letzte Seite, ohne daß er den leichten Schritt von Tante Friederikens Enkelin, der Tochter von Gustav Holder, vor seiner Thüre hörte. Noch einmal suchte er diejenigen Stellen in dem Buche aus, die ihn getroffen hatten wie Blitze. Uebervoll wurde sein Herz dabei; es schrie m ihm nach einer Seele, der er sich aussprechen konnte. Heftig schwang er die Glocke, die auf dem Tische im Bereiche seiner Hand stand. Ob Fräulein Holder nach Hause gekommen sei, rief er dem eintretenden Diener entgegen. Vor etwa zehn Minuten, war die Antwort. Das Fräulein sei in ihr Zimmer gegangen und habe sich Thee dorthin bestellt; soeben sei das Mädchen damit hinauf.
Arthur überlegte einen Augenblick. „Ich will ihr guten Abend sagen," entschied er. „Leuchten Sie mir!"
Er erhob sich und stand unsicher, mit einer Hand auf die Tischplatte gestützt. Der Diener trat heran, um ihm den Arm zu bieten. „Nein, nein," wehrte Arthur ab, „ich will keine Hülse mehr nöthig haben; jetzt nicht mehr." Der Diener erinnerte an die Treppe. Arthur biß die Zähne zusammen. „Leuchten Sie!" wiederholte er. „Mir kommt die Stärke nicht im Schlaf zurück; wachend muß ich sie mir ertrotzen. Ich will — und nun vorwärts!"
Klara hörte Arthur's schwere Tritte aus der Treppe und eilte ihm entgegen. Besorgt sah sie ihn langsam emporklimmen.
„Bleiben Sie oben, Klara!" rief er hinauf. „Ich habe mir vorgenommen, gegen Natur und Schicksal meinen Willen zu behaupten. Es ist die höchste Zeit, daß ich mir wieder Freiheit der Bewegung verschaffe."
Während dieser stoßweise gethanen Aeußerungen war er oben angekommen. Er ergriff Klara am Arm und athmete tief auf. „Und Sie glaubten, mir entrinnen zu können — am letzten Abend," sagte er, „und haben es wirklich versucht? O Klara, das hätte ich nicht von Ihnen gedacht!"
Mit ängstlichem Staunen bemerkte das Mädchen die seltsame Erregung des Vetters. Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Ich wollte nicht stören," entschuldigte sie sich. „Doch da Sie mich gefunden haben — treten Sie ein — so spät ist es noch nicht, daß ich Ihnen ein halbes Stündchen zum Plaudern versagen kann."
Stille sah Arthur sich in dem Zimmer um, das er jetzt betrat.