Glockenspiel. Gesammelte Gedichte von Heinrich Seidel. Band VII der „Gesammelten Schriften“. Leipzig, G. A. Liebeskind. 1889.
Gedichte von Ludwig Pfau. Vierte durchgesehene und vermehrte Auflage. Stuttgart, Adolf Bonz & Co. 1889.
Das Lied der Menschheit von Heinrich Hart. Erster und zweiter Band: „Tul und Nahila“ und „Nimrod“. Leipzig, Baumert & Ronge. 1889.
Der Rhapsode der Dimbovitza. Lieder aus dem Dimbovitzathal. Aus dem Volksmunde gesammelt von Helene Vacaresco. Ins Deutsche übertragen von Carmen Sylva. Bonn. Emil Strauß. 1889.
In einem der Bücher, denen diese Zeilen gelten, wird der Thurm des Nimrod 9 erwähnt. Ein Nimrod-Thurm ist es, der sich auf dem Tische des Kritikers für moderne Versdichtung aufhäuft. Der Muth erlahmt vor der Fülle; vor dem Inhalte aber erlahmt nur zu leicht der Glaube an das Recht der Verse überhaupt in unserer Zeit. So regt sich die Klage überall. Das alte Wort Heine’s scheint plötzlich ein Prophetenwort: es sei so viel in Versen gelogen worden, daß man gar keine mehr hören möchte. 10 Schon erheben sich Stimmen aus dem Lager der jüngsten revolutionirenden Aesthetik, die von der Prosa als der einzig würdigen Kunstform reden. Der Besonnene fühlt die Uebertreibung, das Unreife in solcher Vernichtungsforderung. Aber auch der Nüchternste muß begreifen, wie groß die Versuchung ist. Absichtlich habe ich aus dem gefährlichen Reichthum, der mir vorlag, bloß die oben genannten fünf Bände ausgewählt. Denn es war mir im Gegensätze zu der Eilfertigkeit jener Pereat-Rufe darum zu thun, für den Vers einzutreten. Ist es doch allen Ernstes besser, fünf gute Leistungen mit Maß, aber doch im wesentlichen zu loben, als mit herbem Worte ein Dutzend kleiner Anfängerarbeiten abzuthun, die eine breite Würdigung vielleicht sehr anmaßend verlangen, aber niemals verdienen. Die Spuren einer geistigen Störmung, die vorübergehend dem Verse weniger günstig ist, als der Prosa, zeigen sich auch hier am grünen Holze. Die letzte Probe, das rumänische Liederbuch von Carmen Sylva, kommt allerdings seiner Entstehung nach für diesen Gesichtspunkt kaum in Betracht; ich muß es gewissermaßen durch einen Strich trennen und allein beträchten. Im Uebrigen ist es aber kein Zufall, daß von vier modernen Dichtern nicht weniger als drei fast ebenso sehr, wie als Dichter, als Kritiker, als Aesthetiker sich hervorgethan, also dem kalten Verstandestriebe unserer Zeit in reichem Maße Rechnung getragen haben: Pfau, Fontane und Hart. Es ist auch charakteristisch, daß auf eine Auswahl von vier guten Poeten des Tages nur ein einziger verhältnißmäßig junger Dichter kommt, während drei trotz großer Jugendfrische des Geistes den Jahren nach schon in eine vergangene Generation hinüberreichen, wozu noch kommt, daß man zu diesen Aelteren leicht einen kleinen Kreis Ebenbürtiger hinzufinden könnte, während die Wahl eines Jüngeren, der neben Heinrich Hart treten könnte, trotz des lärmenden Geschreies so vieler Sängerjünglinge der verschiedensten „Schulen“ wesentlich schwerer hielte. Formal stehen unsere vier Dichter sämmtlich auf einer Höhe, die durchaus einer Zeit angemessen ist, deren rhythmisches Gehör sich durch die Schulung eines Jahrhunderts fast bis zu einem Extrem verfeinert hat. Inhaltlich bietet jeder eine feste Individualität, bei der die Schablone aufhört, die aber, jede in ihrer Art, doch Typisches für eine ganze Richtung unserer literarischen Welt aufweist. Mit kürzestem Worte angedeutet, ist Fontane der feine, etwas resignirte, aber darum noch nicht kalte Lyriker des „Berlin unter dem alten Kaiser“; Seidel ist eine Gestalt aus demselben Berlin, aber gewissermaßen eine absichtlich isolirte Gestalt, ein Poet, der die Welt
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