Der weltlichen Gerichtsbarkeit entzieht Fontane seinen Helden, indem er ihn glücklich nach Amerika entkommen läßt. Aber auch Raskolnikow war fast aus der Schlinge, da trieb ihn sein Gewissen zurück. Hier geht nun Fontane ganz und gar seine eigenen Wege. Gewissensbisse wegen der That hat sein Held eigentlich bis zum letzten Tage nicht. Er sieht nach wie vor einen Act der Nothwehr darin — der oder er! Aeußerlich erringt er sich eine tüchtige Stellung, ein alter Menonitenprediger, dem er beichtet, verzeiht ihm und gibt ihm seine Tochter zur Braut. Aber ein Anderes nagt an ihm. Der Förster war damals nicht gleich todt gewesen. Er hatte noch lange Stunden in der Einsamkeit gelitten, um Hülfe gerufen. Und er, der ihn gemordet, hatte den Schrei gehört, — ohne zu helfen. Von dieser einzigen Schuld, die er fühlt, dieser Schuld gegen das allgemeine menschliche Mitleid, kann er sich innerlich nicht frei machen. Und als er selbst dann, fast, aber doch nicht ganz auf Rufnähe bei Freunden und Braut, durch einen Sturz im Gebirge zu demselben einsamen Verschmachtungstod verdammt ist, da schreibt er mit Blut auf ein Zettelchen: „Ich hoffe — quitt.“ Dieser Schluß, mit wunderbarer Dichterkraft vorgetragen, umschließt die schwerste Räthselfrage des Ganzen. Der Zufall, der dieselbe Situation fast genau ein zweites Mal hervorruft, hängt nicht organisch in der Dichtung. Wohl versteht man, daß das Gefühl des .Quitt“ erlösend durch die Leidensstunde geht. Aber wenn diese nun nicht ein trat? Ging unser Held auch dann mitten im Glück an der inneren Wunde langsam unter? Vielleicht hat der Dichter den Zufall nur benutzt, um symbolisch zusammenzudrängen. Oder wollte er wirklich die Hand des Fatums zeigen? Dafür spricht kaum Etwas in der sonstigen Composition des Buches, dem jede Mystik fremd. Wie es aber auch sei: der eine Gedanke ist von durchschlagender Kraft, das Zusammendrängen des ganzen Schuldproblems auf die Sünde wider das Mitleid. Das ist ideell eine große Dichterthat, einerlei wie nun die Ausführung sein mag. Und wenn irgend ein Zug, so kommt gerade dieser denn doch aus der Weltanschauung, die hinter der Dichtung steht. Mag Fontane sich noch so bedachtsam hinter seinen Gestalten verbergen und ganz objektiv bleiben wollen: hier blitzt das Auge des großen Menschen durch, dem Moral nicht ein Wort, sondern ein Leben ist, — hier an der bedeutsamsten, an der in jedem Sinne originalsten Stelle des ganzen Werkes. Und wie bei Heyse die spielerische Arabeske, so ist bei Fontane der Vorwurf der Spitzfindigkeit das Allerungerechteste, was vorgebracht werden kann; es ist nichts weniger als spitzfindig, daß die Sünde gegen das Mitleid schwerer wiegt als die gegen das Leben!
(...)
Theodor Fontane an Wilhelm Bölsche
Berlin 2. Juli 91. Potsd. Str 134.C.
Hochgeehrter Herr.
Gestern empfing ich durch Rodenbergs Güte die „Deutsche Rundschau“ mit Ihrer Besprechung meines Romans und ich eile Ihnen aufrichtig dafür zu
400