Heft 
(1984) 37
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könnte. Und es konnte mir von ihm nicht leicht etwas Besseres passieren, als daß ich auch in diesem Punkte noch nach zwei Seiten gründlich auf­geklärt und des Irrtums überführt wurde.

Auf der einen Seite wurde ich durch das aktuellste Ereignis belehrt, daß dieser Theaterkritiker thatsädilich doch noch etwas Besonderes vor anderen voraus hatte und durchaus auch als solcher nicht in die große Masse hinein­verrechnet werden durfte. Und auf der anderen lernte ich mit der gleichen Verwunderung, die wohl fast alle Verehrer seiner Lyrik und Seiner Wanderbilder an sich erfahren haben daß neben und vollends nachher jenseits der Kritisiererei auf seine alten Tage in diesem einzigen Manne noch einmal der Dichter für ein ganz neues Gebiet so gewaltig durchschlug und auferstand, wie es kaum vom stärksten Anfänger je erlebt worden ist.

Für den ersten Punkt wurde entscheidend der Winter 1889/90, der auch sonst so viel im modernen ästhetischen Leben entschieden hat.

Es kam dieFreie Bühne mit Vor Sonnenaufgang, der Familie Selicke, der Macht der Finsternis. Bis auf ein paar Ausnahmen blamierte sich die ganze Berliner Theaterkritik hoffnungslos. Diese Herren, die an allen Sorten armseligster französischer und deutscher Schwänke mit der Gravi­tät Lessings die bedeutenden Seiten herausgefunden hatten, erwiesen sich als Taube und Blinde im Moment, da zum ersten Mal wieder ein Hauch echter Kunst über unsre Bühne wehte.

Gerade in diesem heiteren Sturmwinter aber wurde Theodor Fontane der Kritiker riesengroß, so groß, daß sein eigenes Blatt, dem er diente, ihn schließlich verleugnen mußte, so groß, daß die ganze ästhetische Jugend, die Wildesten und Unruhigsten, ihm begeistert zujubelten. Dieser schlichte alte Mann, ein Siebziger an Jahren, bewies endgültig, daß er nicht bloß in der Mark und der preußischen Legende, sondern überhaupt in der Dich­tung daheim sei und unabhängig von aller Tendenz Gold und Talmi zu unterscheiden wisse. Es war das Abendrot eines Kritikertums, das unmit­telbar danach ganz aufhörte. Aber ein prachtvolles Abendrot, eine wahre letzte Ehrenerklärung, daß die ganze Armseligkeit und Verknöcherung des konventionellen Kritisierens diesen schlichten Kopf nicht untergekriegt hatte. Er erkannte in dem Neuen die Dichtung und ging mit ihr und wenn noch so vielNeues im äußerlich geradezu revolutionären Sinne mit unterlief. Wenn Fontane je in seinen Büchern und Gedichten selber etwas Tendenz geritten hat, Tendenz nach veralteten Dingen zu: in diesen Tagen hat er es wett gemacht, als er so mannhaft für Hauptmann und Tolstoi 22 um der Kunst allein willen und jenseits überhaupt von jeder Tendenz eingetreten ist.

Um dieselbe Zeit aber war Fontane selbst schon nicht mehr bloß der Lyriker, märkische Wanderer und Theater-Kritiker. Auf dem Gebiete des Romans hatte sich seiner innersten Kraft ein ganz neues Schaffensgebiet unwahrscheinlich spät noch einmal aufgethan, und mit Welchem Glück! Der erste große Roman ging freilich fast spurlos vorüber:Vor dem Sturm, 1878 zuerst in vier Bänden erschienen, später handlich in einen zusammen­gedruckt. Ich habe ihn erst Jahre nach seinem Erscheinen kennen gelernt.

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