Heft 
(1984) 37
Seite
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flächlicher Moralweisheiten, die grauenhafte Leere gewisser Gesellschafts­kreise, die Armseligkeit eines Mittelchens, wie es ein Duell darstellt, gegen­über Konflikten eines Menschenlebens. Es besteht nun aber in der That gar kein Zweifel, daß Fontane selbst, der reflektierende, selber gewissen Gesellschafts- und Moraltendenzen huldigende Mensch, so weit durchaus nicht gehen wollte. Die Wahrhaftigkeit des Dichters, die innerliche Wahr­haftigkeit, die noch mehr ist als irgend eine naturalistische Doktrin, hat ihn einfach mitgerissen, über sich selbst intuitiv hinausgerissen.

Eigentlich nirgendwo erscheint die tiefste, heiligste Kraft des Dichters so eklatant wie vor solchem Fall. Der Dichter muß echtes Leben schaffen über den Kopf aller seiner eigenen Vorurteile hinweg. Es ist, als zeuge die Natur neu durch ihn und benutze sein Gehirn einfach als Leitungsbahn dabei, ohne sich im mindesten darum zu bekümmern, was in gewissen Schub­fächern dieses Gehirns noch für subjektives Material herumliege und sich gedanklich wohl gar als die Hauptsache im gewöhnlichen Leben gebärde . 2,1

In diesem Sinne ist der alte Fontane allerdings ein Naturalist von einer Energie gewesen, wie nur wenige neben ihm sie besessen haben. Jedenfalls ist ihm aber nach dieser Seite passiert, was allemal nur mit ganz großen Dichtern in solchem Maße sich ereignen kann.

Es wäre eine hübsche Sache, wenn sich das uns allen allgemein so macht: daß wir mit unseren Handlungen längst im Neuen und Zukunftlichen lebten, wenn auch unsere Tendenzen noch so weit zurück sein möchten. Nur zu oft gehts leider gerade umgekehrt: die Tendenzen strahlen Morgen­rot wieder, die praktische Hand aber, die zugreift, tappt noch in den dicksten Nachtnebel hinein.

Anmerkungen

1 Fontane, Berlin 1988, S. 494 f., 879 1.; Th. Fontane. Briete an Julius Rodenberg. Eine Dokumentation. Hgg. von H.-H. Reuter, Berlin und Weimar 1969, S. 231 f. Die bisher einzige Erwähnung Bölsches bei Fontane ebenda, S. 46 (siehe auch unten, S. 398).

2 So Reuter in; Fontane, Briefe an Julius Rodenberg, S. XLI.

3 Fontane, S. 494.

4 Karl Bölsche war nach dem Studium der Theologie Redakteur derKölnischen Zeitung geworden; er war verheiratet mit der Tochter eines angesehenen Main­zer Buchhändlers. Unter der für die Rezension von FontanesDer Krieg gegen Frankreich verwendeten Chiffre sind in erster Linie Besprechungen von histo­rischen und geographischen Veröffentlichungen nachweisbar, daneben auch von Reiseliteratur und Tagesbelletristik.

5 Fontanes Briefe in zwei Bänden. Ausgewählt und erläutert von Gotthard Erler. 2. verbesserte Aufl. Berlin und Weimar 1980, Zweiter Band, S. 94 f.

6 Theodor Fontane, Briefe an Wilhelm und Hans Hertz 18591898. Hg. v. Kurt Schreinert f. Vollendet und mit einer Einführung versehen v. Gerhard Hay. Stuttgart 1972, S. 468. Vgl. dazu auch den Brief an Hertz v. 2. 1. 1880, ebenda, S. 228.

7 Am l. ll. 1878 schrieb Fontane zur Versendung von Rezensionsexemplaren dieses Romans:Gleich gute Beziehungen unterhalte ich auch zur .Kölnischen', wo mir der Redakteur des Feuilletons gewogen ist. Auch diesem könnte ich sagen: bringen Sies dann und dann... (S. 194). Drei Tage später nannte er HertzK. Bölsche unter denen, welchen er selbst ein Exemplar senden wollte (ebenda). Zu der mit einer anderen als der 1873 verwendeten Chiffre signierten Rezension des Romans, die, sicher zur Enttäuschung des Dichters, erst am 30. 12. 1878 erschien, hat sich Fontane nicht geäußert (zur Rezension vgl.: Theodor Fon-

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