Heft 
(1984) 37
Seite
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Mund stürzte das Eiweiß wieder in den Abgrund. Unsagbare Niederlage! Was halfen mir jetzt alle unsere Siege?! Mir war unter dem Bajonneten- angriff aller auf mich gerichteten Augen nicht anders zu Mut, als ob St Privat nie gestürmt worden wäre, und im Wirbeltanz der Gedanken mich zuletzt nur noch dem Instinktiven überlassend, rief ich jetzt, unter Zusammenfassung aller Kräfte, mit demonstrativer Lautheit über den Tisch hin: gargon, une cuiller. 22

Die große heroische Handlung dieses Krieges, die Erstürmung von St Pri­vat, ein Triumph der Kultur in Aktion, wird hier zu einer Analogie in einer an sich trivialen, persönlichen Anekdote, wo der ,Erbfeind über den Preußen triumphiert. An dieser Anekdote merkt man aber, daß man es kaum mit einem unbedingten preußischen Patrioten zu tun hat. Für Fon­tanes weitere Arbeit an den Kriegsbüchern kann das nicht ohne Folgen

Während seines Aufenthaltes im Gefängnis von Moulins bekommt Fontane vom Auxiliarkoch als Lesematerial den Kriegsroman von Charles Rabou, La grande Armee. Wie zu erwarten war, gefällt ihm diese französische Darstellung der napoleonischen Feldzüge nicht: ,Ich las 50 Seiten: das Lager bei Boulogne, die Kapitulation von Ulm, Austerlitz, zuletzt Jena, nach diesem hatte ich genug; ich war verstimmt. Und ich glaube mit Grund. Daß die napoleonische Legende einen verhängnisvollen Einfluß auf das ' Frankreich Napoleons III. ausgeübt hatte, war ein weitverbreiteter Vor­wurf, den Schriftsteller wie Gustav Freytag gegen den Feind von 1870 richtete. Die Gültigkeit dieser Kritik einer bestimmten Art historischen Denkens wird von Fontane anerkannt, aber Fontane sieht ihre Allgemein­gültigkeit; es geht nicht um ein nationalspeziflsches Problem: sie trifft auch für die Deutschen, auch für ihn zu:,Solche Bücher, sagt ich mir, schreibst du selbst. Sind sie ebenso, so taugen sie nichts. Die bloße Ver­herrlichung des Militärischen, ohne sittlichen Inhalt und großen Zweck, ist widerlich. 23

Diese prise de conscience findet statt, während Fontane in Gefangenschaft sitzt, isoliert von der überhitzten Atmosphäre, welche im damaligen Preu­ßen herrschte, und während er gerade wegen der räumlichen Distanz die Welt draußen und sein Heimatland so sehen kann, wie sie sind. Die Episode spiegelt sich in Fontanes Erstlingsroman, Vor dem Sturm, wider. Im 51. Kapitel machen Lewin von Vitzewitz und seine Berliner Freunde, die jeunesse doree Preußens, einen Ausflug nach Kloster Lehnin, der in einer von Jürgaß inszenierten, preußisch-patriotischen Überraschung gipfelt, welche das Ende Napoleons prophezeit und darstellt. Nachdem die kari­kierte Figur Napoleons auf den Spruch ,Pereat Bonaparte! verschwunden ist, herrscht bei den Gästen eine allgemeine Heiterkeit, nur nicht bei einem:

Nur Hirschfeldt schwieg; er hatte sich draußen in der Welt im Kampfe gegen den .großen Feind der Menschheit einen Respekt vor ebendiesem Feinde erworben, der ihn an Szenen, in denen der renommistische Ton des Regiments Gensdarmes nachklang, wenig Gefallen finden ließ. 2/

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