Heft 
(1984) 37
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sehen Darstellung seiner Umwelt beruht, mußte diese Unkenntnis das Gelingen des Romans beeinträchtigen, in dem der unregelmäßige Gebrauch des Wiener Dialekts und das Lokalkolorit etwas Anstudiertes haben. Die folgenden Romane sind alle bis auf einen in Berlin oder zumindest in Preußen angesiedelt, in einer Umgebung also, die Fontane immer wieder selbst durchwanderte. Das beweisen die vier umfangreichen Bände seiner Wanderungen durch die Mark Brandenburg, mit denen er eine ganz per­sönliche literarische Gattung schuf, eine Mischung aus geographischer und historischer Beschreibung mit Anekdote, Legende und Dichtung.

Also: Handlung, Zeit, Ort. Nachdem der Schriftsteller sich einmal die drei natürlichen Dimensionen seiner Erzählkunst zueigen gemacht hat, widmet er sich mit handwerklicher Ausdauer einer fortschreitenden Läuterung seines erzählerischen Stoffes bis hin zu dem Höhepunkt, den nach Ansicht vieler qualifizierter Kritiker sein Meisterwerk Effi Briest von 1895 dar­stellt. Wie uns ein grobgeformtes, gewöhnliches Glas, das aber aus feinstem Kristall ist, bei einer leichten Berührung durch die unerwartete Reinheit seines Klanges in Erstaunen versetzt, so enthüllen diese Romane Fontanes, die von traurigen Liebesgeschichten und traurigen Ehen in oft schwatz­süchtiger und provinzieller Umgebung, unter nur allzu scharf gezeichneten Menschen erzählen, eine außergewöhnliche Klarheit des Tons, wenn sie mit Muße und einfühlsamer Aufnahmebereitschaft gelesen werden. Diese Klarheit ist eine nicht nur formale Qualität, sie wurde erkennbar im Ein­klang mit einem inneren Reifeprozeß erworben, in wechselseitiger Be­fruchtung von ästhetischen und ethischen Momenten, von Poesie und Weisheit. Am Ende dieses erstaunlichen Prozesses läßt eine Schreibkunst von unvergleichlicher Feinheit den gewöhnlichsten Stoff transparent erscheinen, ohne ihn aufzulösen, läßt ihn eins werden mit einer Welt­anschauung, deren erstes Kennzeichen die Skepsis ist, die aber eigentlich auf Güte, Toleranz und sogar auf einem geheimen wie unfreiwilligen Vertrauen in die letzte Harmonie aller Dinge beruht. Es sind all dies Eigenschaften, die auf eine langjährige, bewußt durchlebte Erfahrung zurückweisen, die als ideale Bedingung ein abgeklärtes Alter zur Voraus­setzung haben.

Kaum eine kritische Porträtstudie Fontanes oder Gesamtdarstellung seines Werkes geht nicht von dieser seiner außergewöhnlichen Eigenart aus: daß nämlich alle seine Romane, die ihm zu Recht den Ruf eines der größten Romanciers des 19. Jahrhunderts einbrachten, in hohem Alter geschrieben wurden. 1879, als er Schach von Wuthenow, seinen ersten bedeutenden von Lukäcs nahezu als Krönung seines Schaffens betrachteten Roman konzipierte (in ihm wird die Geschichte eines individuellen Versagens vor dem Hintergrund des untergehenden friderizianischen Preußen zu Beginn des 19. Jahrhunderts geschildert), 1879 also, schrieb Fontane:(...) so lächerlich es klingen mag, ich darf vielleicht leider von mir sagen: ,ich fange erst an. Nichts liegt hinter mir, alles vor mir; ein Glück und ein Pech zugleich. Als er dieses entwaffnende Geständnis, diese Prophezeiung niederschrieb in jeder Hinsicht sollte sie sich später als nur allzu wahr erweisen, war Fontane genau sechzig Jahre alt.

1819 war er in Neuruppin, ungefähr neunzig Kilometer von Berlin entfernt,

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