Über die Gründe dieser späten Blüte ist viel diskutiert worden, sie wurde geradezu zum Hauptproblem der Fontane-Kritik. Persönliche Gründe und historische Motive werden ins Feld geführt. Thomas Mann, der in mancher Hinsicht als der unmittelbare Erbe und Nachfolger des preußischen Schriftstellers zu betrachten ist, setzt sich schon in seinen ersten kritischen Untersuchungen, dem bedeutenden Aufsatz Der alte Fontane mit diesem Problem auseinander: „Wie es geborene Jünglinge gibt, die sich früh erfüllen und nicht reifen, geschweige denn altern, ohne sich selbst zu überleben, so gibt es offenbar Naturen, denen das Greisenalter das einzig gemäße ist, klassische Greise sozusagen, berufen, die idealen Vorzüge dieser Lebensstufe, als Milde, Güte, Gerechtigkeit, Humor und verschlagene Weisheit, kurz, jene höhere Wiederkehr kindlicher Ungebundenheit und Unschuld, der Menschheit auf vollkommenste Weise vor Augen zu führen.“
Vier Jahrzehnte später legt Georg Lukäcs in einem Aufsatz — nicht zufällig trägt er denselben Titel wie der Thomas Manns — entschieden den Akzent auf den historischen Einfluß. Nach Ansicht des ungarischen Kritikers war das Leben Fontanes während der ersten beiden Abschnitte, das heißt während der Zeit vor 1848 und in dem darauffolgenden Zeitraum (bis ungefähr zur Mitte der sechziger Jahre) von tiefer Richtungslosigkeit gekennzeichnet; und das war — zwar nicht der einzige — aber doch ein ganz entscheidender Grund für die Unangemessenheit und Unsicherheit, die seine literarische Produktion dieser Zeit beeinträchtigte. In der ersten Periode entsprach nach Lukäcs die Haltlosigkeit Fontanes seiner nur naiv-romantischen Teilnahme an der liberalen Revolutionsbewegung, die ja in Deutschland nicht zur Reife gelangte. Im zweiten Zeitraum war die Desorientierung durch seine Parteinahme für die preußische Führung in der Frage der deutschen Einheit bedingt, beziehungsweise durch die Tatsache, daß er eine historische Bewegung unterstützte, die legitime Bestrebungen des Volkes an stark reaktionäre Methoden und Prinzipien band. Erst als die grundsätzlichen Widersprüche, auf denen das Zweite Reich beruhte, offen zu Tage traten, das heißt in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre (das Sozialistengesetz von Bismarck wurde 1878 verabschiedet), erst da gelang es dem realistischen Instinkt Fontanes, sich vollständig zu befreien. Nun vermochte er, sich von seinem spätromantischen Historismus zu lösen und sich auf die Darstellung der zeitgenössischen Wirklichkeit zu konzentrieren, die er aus unmittelbarer und nunmehr gereifter Erfahrung kannte: „Wenn er, wie wir sahen, Ende der siebziger Jahre mit Recht meint, als Schriftsteller jetzt eigentlich anzufangen, so liegt der Grund dieses Phänomens nur teilweise in seiner Persönlichkeit; als Ganzes kann es nur aus der oben angedeuteten Wechselwirkung mit dem Gang der deutschen Geschichte begriffen werden.“
Bis hierhin ist die Diagnose von Lukäcs ohne weiteres annehmbar; um so mehr, als er auch alle möglichen — allerdings nicht näher untersuchten — subjektiven Gründe zugibt.
Seine Beurteilung wird jedoch in ihrem weiteren Verlauf unhaltbar, wenn sie die Grenze des alten, großen Fontane darin sieht, daß er die demokratische Bewegung des deutschen Volkes nicht mit hinreichender Treue und Kampfkraft unterstützt habe; deshalb sei seine kritische Darstellung
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