Heft 
(1984) 37
Seite
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der Zeit Bismarcks und der Wilhelminischen Ära von einer im Grunde nihilistischen und resignierten Skepsis geprägt, es fehle seine innere An­teilnahme an der emanzipatorischen Bewegung, und daher ermangele er einer echten, vollständigen Durchdringung der historischen Wirklichkeit. Nachdem er die unterschiedlichte Haltung und das weit höhere künstle­rische Niveau anderer großer bürgerlicher Realisten wie Swift, Balzac und Tolstoj hervorgehoben hat, betont Lukäcs:Und ein entscheidender Grund dieses Niveauunterschiedes liegt darin, wie und wo der Zweifel einsetzt und worauf er sich richtet; was hingenommen und was schriftstellerisch zersetzt und vernichtet wird; ob Skepsis, Ironie und Selbstironie literarische An­griffswaffen gegen die bestehende kapitalistische Gesellschaftsordnung bilden (...) oder ob sie nur ein Rettungsgürtel sind, um in den Fluten einer ungünstigen Zeit nicht ganz zu versinken. Es unterliegt keinem Zwei­fel, daß Fontanes Fall zur letzteren Kategorie gehört. Lukäcs hat offen­sichtlich übersehen, daß die demokratische Bewegung in Deutschland in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts von der gleichen Unreife gekenn­zeichnet ist, und daß sie von der gleichen Unsicherheit in Frage gestellt wird wie die liberale Bewegung von 1848. Die Größe Fontanes, der Grund dafür, daß er ein großer realistischer Schriftsteller wurde, besteht gerade darin, daß er nicht einer dritten Illusion erlag, nach der liberalen und der national-liberalen, daß er nicht zuletzt noch wiederum naiv und roman­tisch als bürgerlich-radikaler Intellektueller sozusagen Parteigenosse einer demokratischen Volksbewegung wurde, die voller ungelöster Wider­sprüche steckte und die schon dem im folgenden Jahrhundert dann offen zutage tretenden Dilemma entgegenging. Kurz, Lukäcs wirft Fontane paradoxerweise vor, nicht zum drittenmal den Fehler begangen zu haben, den Lukäcs selbst die beiden ersten Male so hellsichtig diagnostiziert hat.

Lukäcs scheint bei dieser Gelegenheit zu vergessen, daß die Ebene der epischen Schreibweise ausschließlich die der Wirklichkeit ist. Daß Fontane in seinen so oft zitierten Briefen und in anderen nicht poetischen Schriften enthusiastisch seine ganze Sympathie für den vierten Stand bekundet, für die sozialen Kräfte, denen, wie er sagt, die Zukunft gehört, daß außerdem in diesen Schriften die Verurteilung der alten Aristokratie Preußens und der Politik Bismarcks viel ausdrücklicher und entschiedener ausfällt als in seinen Romanen, all das ist nicht bedingt durch eine beklagenswerte Tren­nung zwischen privater und öffentlicher Kommunikationsebene, durch Opportunismus, durch einen senil skeptischen und resignierten Individua­lismus, sondern vielmehr durch die Tatsache, daß Fontane zu unserem Glück die Ebene des sozio-politischen Ideals sehr wohl von der der künstlerischen Darstellung zu unterscheiden wußte. Andernfalls hätte er das anmaßende und künstlerisch sterile Werk so mancher mit dem Sozia­lismus liebäugelnden Naturalisten wiederholt, die in diesen Jahren das literarische Leben beherrschten, aber nach einer kurzen, im Grunde unoriginellen Schaffensperiode widersprüchlichsten Mystizismen anheim­fielen.. Der alte, lebensvolle und weise Fontane begleitete ihr hoffnungs­freudiges Schaffen mit ungeteilter Sympathie und lobte ihre bedeutendsten Protagonisten, von Arno Holz bis Gerhart Hauptmann, aber er hütete sich

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