Hinnahme von anachronistischer Ungerechtigkeit aus, die Tatsache, daß diese Annahme sich geradezu in einen minderen Grad der Zufriedenheit pervertieren vermag.
Bei Erscheinen von Irrungen, Wirrungen warf einer der engagiertesten Kritiker der Zeit, Maximilian Harden — er wurde dann mit seiner Zeitschrift „Die Zukunft“ zum kritischen Gewissen des Wilhelminischen Zeitalters — Fontane vor, ein Konservativer zu sein, und er wünschte sich, daß Fontane später die Kraft Anden möge, die in seinen Romanen gestalteten Opfer des Vorurteils zu einem mutigen Nein Anden zu lassen. Aber diese Möglichkeit hat sich zum Glück nicht verwirklicht. Man stelle sich Effi Briest als Rebellin vor oder Lene als Selbstmörderin, und man frage sich, ob das nicht die Zerstörung des trauervollen, durchdringenden Zaubers bedeuten würde, den diese beiden Bücher ausstrahlen. Fontane hat instinktiv ein grundlegendes Gesetz der zeitgenössischen preußischen Gesellschaft begriffen, ein Gesetz, das tief in der Geschichte dieses Landes verwurzelt ist. Er konnte es intuitiv erfassen, weil er unter anderem eine profunde Kenntnis des großen Jahrhunderts besaß, in dem Preußen entstand und zur Macht aufstieg: vom Großen Kurfürsten bis zum Tod Friedrichs II.; er wußte, daß dieser Aufstieg auf einem widersprüchlichen Prinzip — man könnte es als „statische Aufklärung“ bezeichnen — basierte. Mit anderen Worten ist das friderizianische Deutschland und dann das Reich Bismarcks, das in mancher Hinsicht seine Nachfolge angetreten hat, ein Land, das jeden möglichen Fortschritt akzeptieren kann, unter der Bedingung, daß er stückweise und innerhalb der starren Strukturen der bestehenden Klassen durchgeführt wird. So verschafft Friedrich II., tolerant und fanatisch, dem von einem Adligen unterdrückten Müller sein Recht, doch er verhindert jede Aufweichung der sozialen Rangordnung. Und so setzt der letzte Hohenzollem die modernsten Reformen, zum Beispiel in der Sozialversicherung, durch, während er gleichzeitig ein freies Wechselspiel im parlamentarischen und politischen Leben weitgehend unterdrückt. In keinem anderen europäischen Land war die korporative Abkapselung der herrschenden Schichten so stark, in keinem anderen Land wurde die kraftvolle Dynamik innerhalb einzelner Gruppen so sehr von starren Barrieren behindert. Diese speziüsche Eigenschaft — das Nebeneinander beharrender und fortschrittlicher Elemente — verleiht dem Preußen Fontanes zum Jahrhundertende eine unübertreffliche historische Plastizität, die er in dem Freskenzyklus seiner späten Romane gestaltete. Dieser — wiewohl schon zum Tode verurteilten — unleugbar grausamen Wirklichkeit wollte der Schriftsteller nicht mit offener Polemik begegnen, er beabsichtigte vielmehr, ihr etwas Wirksameres entgegenzuhalten: seine wahrheitsgemäße Darstellung, die objektive, zuweilen auch mitleidvolle EmpAndung von einer Realität, die ihrem Ende entgegengeht, aber noch präsent ist, die die Bühne der Welt noch beherrscht, während sie sich anschickt, von ihr abzutreten. Wenn man sich Botho und Lene vor Augen hält, so denkt man an das, was sein sollte, eben weil man fühlt, daß es damals — und nur für kurze Zeit noch — nur so sein konnte.
Schon in den ersten Zeilen des Romans, da, wo von dem stillen Gemüsegarten erzählt wird, der sich einst zwischen Kurfürstendamm und Kur-
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