Heft 
(1984) 37
Seite
445
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die Zeit hinausgeht, veranschaulicht in Lenes Bügeln oder im Geschirr­scheuern des Mädchens zu Hankeis Ablage, das Lene so gespannt betrach­tet diese Symbole, Begriffe und deren Varianten spielen eine große Rolle im Roman. Begierde aber, wenn sie nicht geregelt wird, artet zuLust aus, d. h.violent or irregulär desire 11 : Sie ist dann unmäßig.

Wie werden uns also Liebe und Gier an Ort und Stelle von Fontane gezeigt, einem Autor, dem solch einlokales sich Einleben furchtbar viel bedeu­tet? 12 Bezeichnenderweise überlegte er eine Zeitlang, ob erIrrungen, Wirrungen eineBerliner Alltagsgeschichte 13 betiteln sollte. Zunächst werden Liebe und Gier im Roman enthüllt als Teile einer ganzen Serie von Kontrasten: Ordnung/Unordnung; die unteren/die oberen Schichten; klein/groß; einfach/forsch; Natur/Kultur; Ehrlichkeit/Allüren; Poesie/ Prosa; Arbeit/Muße; Selbstlosigkeit/Egoismus; Glück/Traurigkeit; Über­windung der Zeit/Besessenheit von der Zeit; Wirklichkeit/Illusion . 14 Diese Kontraste können aber, je nach den Umständen oder je nachdem, welcher Protagonist spricht, handelt oder sieht, ineinander übergehen, sich verschieben oder sich plötzlich verwandeln. Der Hauptgedanke des Romans tritt völlig klar heraus, aber um ihn zu begreifen, muß der Leser seine Phantasie beständig spielen lassen: Nichts wird vom Autor künstlich vereinfacht, keine Lösung ist zu schnell bei der Hand, nichts steht endgültig fest. Anscheinend ungezwungen, ist der Roman erstaunlich fest organisiert, daher Fontanes Tadel an Tobias SmollettsRoderick Random:

Alles ist grenzenlos gemein oder grenzenlos keusch und rein, und das eine ist geradeso langweilig wie das andre . 15 Und als sie sah ... 1,16 wie Lene an einer andren Stelle sagt, macht die Liebe sie nicht blind, sondern klarsichtig. Das Sehen spielt eine große Rolle im Roman: Einige der Charaktere sehen die Dinge beständig klar, andre selten, andre sind blind oder täuschen sich und doch steckt für den Leser mehr dahinter, als man auf den ersten Blick meint. Man nehme zum Bei­spiel Lenes Nachbarin, die geschäftige, lebendige, freundliche Frau Dörr: Sie hatte zu ihrer Zeit auch einen Aristokraten als Liebhaber, dem sie auf preussische Art ihren Dienst getreulich und ehrlich erwiesen hat, um später pflichtgemäß einen ältlichen, aber lüsternen Gärtner zu heiraten. Sie legt Lene nah, wie wichtig es sei, in einem solchen Liebesverhältnis wie dem ihrigen, sich nur keine falschen Hoffnungen zu machen:

Un schlimm is eigentlich man bloß das Einbilden . 17 Das ist eine ausgesprochen vernünftige Bemerkung von Frau Dörr, und doch ist sie eitel und, noch dazu, neugierig auf die beiden jungen Liebhaber, die sie gern auf ihren Ausflügen begleitet, wobei sie, von deren Affäre indirekt erregt, beständig versteckte sexuelle Anspielungen macht. Auf dem Spaziergang, den die drei nach Wilmersdorf machen, benützt Fontane geschickt die äußere Landschaft, um innere Haltungen zu symbolisieren. Zunächst deutet Frau Dörr einen geflügelten, im Schutt einer Bildhauer­werkstatt liegenden Engelskopf als Amor, dann, als sie die flockenartigen, über die Wiese hin ausgestreuten Pappelweidekätzchen erblickt, erzählt sie, wie die einfachen Leute sie benützen, um Matratzen zu füllen, wobei sie näher ausführt, wie sie selbstso mehr fürs Feste sei,für Pferdehaar