Heft 
(1984) 37
Seite
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geworden, das kann ich doch nicht, er hat so etwas Halbes, Unfer­tiges, als ob ihm auf dem Wege nach oben die Kraft ausgegangen wäre. Da bin ich doch mehr für die zugespitzten, langweiligen Schindeltürme, die nichts wollen, als hoch sein und in den Himmel zeigen . 27

In diesem Zusammenhang ist der Mond wieder mit Schuldgefühlen ver­bunden. Die Anklage wird von einem anderen Charakter ausgesprochen. Trotz Corinnas draufgängerischer und temperamentvoller Selbstverteidi­gung kurz darauf wird aus der Art, wie ihr Charakter beschrieben ist, deutlich, daß sie genügend Ehrlichkeit und Intelligenz besitzt, um die Berechtigung von Marcells Vorwürfen anzuerkennen, und daher min­destens ein wenig Schuldbewußtsein haben muß. Bei der Lektüre Fontanes muß man des übertragenen Epithetons immer gewärtig sein, und Corinnas Bemerkungen über die Architektur, veranlaßt durch das enthüllende Mondlicht, zeigen ihre wahren inneren Gefühle. Sie verurteilt den Sing­uhrturm als ,halb und .unfertig 1 , Adjektive, die auf Leopold angewendet werden könnten, und zieht einfache, schlichte Türme vor, die vielleicht .langweilig* sind, zweifellos ein Attribut für Marcell, weil sie für ehrliches Streben stehen. Sie hat auf diese Weise indirekt aber eindeutig ihre wahre Neigung, ihren endgültigen Standpunkt schon in diesem Stadium der Ereignisse erklärt, trotz der Wechselfälle kommender Entwicklungen. Es bleibt unklar, ob dies eine bewußte und beabsichtigte Erklärung ist, um ihren anklagenden Vetter zu beruhigen, oder eine unbewußte Reaktion auf seine Vorwürfe, weil sie ihre Zuneigung Leopold zuteil werden läßt. Marcell selbst mißversteht den entscheidenden Punkt und fordert sie ironischerweise auf, nicht das Thema zu wechseln.

Die Beschaffenheit der mit dem Mond verbundenen Schuldassoziation ist hier wie anderwärts interessant und wie so vieles in Fontanes Werken schwer definierbar. Das Vorhandensein des Mondes bedeutet kein end­gültiges Urteil über die Schuld des Charakters von seiten des Autors, sondern es wird aber nur mit den Einsichten der Personen in ihr eigenes Verhalten assoziiert. Es ist ein Korrelat ihrer Gewissensbisse, die sie pla­gen, aber oft nicht ihr Hauptanliegen sind und im allgemeinen in der folgenden Handlung in den Hintergrund gedrängt oder nicht beachtet werden. Es ist, als ob der Mond einen Augenblick lang ein Gefühl der Schuld in ihrem Innern deutlich mache und es kurz dem Leser offenbare, und dann ist dieses Gefühl wieder unter einer Reihe von Emotionen begraben, von denen es nur eines ist und zwar nicht unbedingt das vor­herrschende oder das stichhaltigste. Das Motiv wirkt auf eben diese Weise in Grete Minde, als der Mond auf Grete und Valtin herunterscheint, wäh­rend sie in der Nacht davonschleichen . 28 Es gibt keinerlei Hinweis darauf, daß der Autor ihre Handlung verurteilt, aber sie haben eindeutig gewisse Schuldgefühle, vor allem, wie es oft der Fall ist, weil sie sich bewußt sind, wie andere Mitglieder der Gemeinschaft über ihr Verhalten urteilen würden. Das heißt also, daß im Ganzen gesehen das Motiv in seiner Funk­tion als Aufzeiger von Schuld nicht wie in Ellernklipp und Quitt ein Nemissymbol liefert und eine höhere Macht bezeichnet, die die Ereignisse beherrscht und beurteilt, sondern einfach ein Bild für eine häufige psycho-

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