Heft 
(1984) 37
Seite
465
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Mond unerbittlicher Zeuge der letzten gemeinsam verbrachten Stunden. 32 In Stine ist das Mondmotiv wieder Zeichen für zunichte gemachte Liebes- hoffnungen, für die Durchkreuzung persönlicher Wünsche durch stärkere Gebote, sei es der Gesellschaft oder der Vererbung. 33

Bei den oben erwähnten Gelegenheiten erkennen oder wenigstens fühlen die Charaktere selbst die Bedeutung des Vorhandenseins des Mondes. Es geschieht auch, daß sie es mißdeuten, aber der Leser wird über seine Bedeutung nicht im Zweifel gelassen. Christine in Unwiederbringlich deutet den auf gehenden Mond als ein Zeichen des Friedens. Fast unmittel­bar darauf kommt Verstimmung auf, und Christine selbst erkennt durch Petersens Reaktion, daß es ihr eigenes Wunschdenken war, und das Un­behagen der Anwesenden straft den scheinbaren Frieden der mond- beschienenen Szene Lügen. 34 Es ist bezeichnend, daß Holk zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht den Mond anschaut und seiner Prophezeiung drohenden Unheils und unglücklicher Liebe nicht ins Gesicht sieht. Christine mit ihren mehr masochistischen Neigungen hat sich, wenngleich unbewußt, dafür entschieden, ihn zu betrachten. Auch Grete Minde miß­deutet den Mondschein, nachdem ihr Bruder ihr Gnade verwehrt hat. Sie blickt auf den Halbmond, wie er heiter auf sie herunterscheint, und nimmt das als Zeichen, daß die Gerechtigkeit siegen wird. Sie hat sich jedoch gerade gefragt:

,Bin ich irr?* 35

und es wird immer deutlicher, daß dies tatsächlich der Fall ist, und daß der Mond kein Versprechen der Hoffnung, sondern ein Vorzeichen des Unglückes ist.

Eine Untersuchung des Mondmotivs in Fontanes Werken ist nicht voll­ständig ohne einen Hinweis auf die Erzählung Geschwisterliebe, in der der Mond auf ziemlich übertriebene Weise als ein zentraler Angelpunkt der Handlung fungiert. Clara, die ihr Leben der Fürsorge für ihren blinden und emotionell anspruchsvollen Bruder Rudolph gewidmet hat, hat sich in den Dorfgeistlichen verliebt. Der Gedanke daran, es ihrem Bruder sagen zu müssen, quält sie. In einer Mondnacht im Juni sieht Clara ihn im Freien schlafen, und das Licht des Mondes auf seinem Gesicht erweckt den Ein­druck, daß er das Sehvermögen wiedererlangt hat. Als eine Wolke den Mond verdeckt, erkennt sie, daß es nur eine Täuschung war, und sie wird in einen noch schlimmeren Zustand innerer Unruhe versetzt, als sie im Licht des wieder auftauchenden Mondes ihren Geliebten durch die Nacht, schreiten sieht. 36 Die Geschichte, Fontanes erste veröffentlichte Erzählung, wurde 1839 geschrieben. Sie ist außerordentlich romantisch, stilistisch ganz untypisch für sein späteres Werk. Und doch erscheint der Mond schon hier in nicht durchaus konventioneller Weise in Verbindung mit unglücklicher, unerfüllbarer Liebe. Die Illusion, die der scheinbar unschuldige und heitere Mond verursacht, dient, als sie zerstört ist, nur als grausame Erinnerung an die unerträgliche Wirklichkeit der Situation, in der Clara sich befindet. Wie es in Unwiederbringlich und Grete Minde der Fall war, wird der augenblickliche Trost, den der Mond bringt, schnell verdrängt durch das Unglück, das er in Wirklichkeit ankündigt; ein Unglück nicht rein äußer-