Heft 
(1984) 37
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sondern Fontane der empfängliche, aufnahmebereite, phantasievolle Dich­ter . 47 Es ist nur natürlich, daß ein solch beeindruckendes und tief emp­fundenes Erlebnis in seinen Werken Ausdruck findet, ebenso wie Erfah­rungen und Beobachtungen einer nüchternen und objektiveren Art.

Diese besondere Szene taucht in den Romanen in vielen Variationen auf. Auch hier bildet Vor dem Sturm einen nützlichen Ausgangspunkt. Die archetypische Szene einer Fahrt bei Sternenlicht findet sich im ersten Kapitel von Fontanes erstem Roman. Lewin wird Schlitten durch die ver­schneite Landschaft zum Sitz seiner Väter gefahren, wo er Weihnachten verbringen will:

Die Sterne traten immer zahlreicher hervor. Lewin lupfte die Kappe, um sich die Stirn von der frischen Winterluft anwehen zu lassen, und sah staunend und andächtig in den funkelnden Himmel hinaus. Es war ihm, als fielen alle dunkeln Geschicke, das Erbteil seines Hauses, von ihm ab, und als zöge es lichter und heller von oben her in seine Seele . 48

Die Sterne wecken bei Lewin ein tiefes Gefühl göttlicher Gnade. Es ist ein mystisches Erlebnis, dessen volle Bedeutung weder ihm noch dem Leser schon klar ist. Es its ein erstes Element der Struktur, die auf die Stern­motive aufgebaut ist und teilweise anhand des Bohlsdorfer Kirchenverses (,Und kann auf Sternen gehen 1 ) weiter geführt wird, ein wichtiges Struktur­element im Roman. Dem ist schon an anderer Stelle ausführlicher nach­gegangen worden . 49 Die Szene kehrt in abgewandelter Form später wieder, als Turgany und Othegraven im Schlitten unter winterlichem Sternen­himmel nach Hause fahren. ,,,. es spricht sich gut unter diesen Sternen ' 50 stellt Othegraven fest, und ihr Gesprächsgegenstand ist göttliche Gnade, unmittelbar assoziiert mit Marie Kniehase, auf die, so hören wir, dieselben Sterne scheinen. Tubal liefert eine weitere Variation in seinem Bericht über den Kastalia-Abend:

,Als wir auf den stillen Platz hinaustraten, lag der Sternschein fast wie Tageslicht auf den Straßen. Ich sah hinauf; mir war zu Sinn als stiege das Christkind aus diesem Sternenglanz in mein armes Herz hernieder . 51

Wieder ist das Thema implizit göttliche Gnade. Drei weitere Variationen konzentrieren sich auf Lewin und verfolgen, wie er sich seiner Liebe zu Marie immer bewußter wird, Marie, auf die sich Gottes Gnade richtet. Auf dem Rückweg von der Silvesterfeier in Guse bringen ihm die Sterne tiefempfundene Erleichterung von den Sorgen dieser Welt . 52 Als er nach seinem Nervenzusammenbruch nach Haus gefahren wird, gehen die Sterne über ihm auf, und er macht eine intensive emotionelle Reaktion durch ; 53 er weint, erkennt aber, daß seine Tränen Glück und Gesundung bedeuten. Schließlich, als er im Gefängnis wartet, blickt er zu dem blassen Sternen­licht hinauf und schläft ein, von seiner Hochzeit mit Marie träumend. Dieser Traum offenbart ihm zum ersten Mal die genaue Beschaffenheit der Gnade und des Glücks, welche ihn erwarten.

In Der Stechlin, Fontanes letztem Roman, in dem viele vertraute Motive wieder auftreten, begegnen wir der Sterne wieder, und zwar in zwei

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