Demgegenüber sahen sich die deutschen Schriftsteller unter dem Einfluß der politischen Zersplitterung ihres Landes, die die Entstehung eines umfassenden sozialen Lebens und einer nationalen Hauptstadt wie die Herausbildung einer politischen und kulturellen Elite verhindert hatte, vor großen Schwierigkeiten gestellt, als sie versuchten, einen Beitrag zu diesem neuen Genre zu leisten. Von dieser Problematik ausgehend will Kliene- berger, Dozent am University College Dublin, zeigen, wie sich eine spezifisch deutsche Form der Prosadichtung entwickelte, in welcher der Mangel an empirischem Gehalt durch die subjektive Erfahrung problematischer Charaktere, philosophische Themen und einen experimentellen Stil ausgeglichen werden sollte. Ziel der Kapitel über Stifter und seine Rezeption, über George Eliot und Gottfried Keller, über Charles Dickens und Raabe ist der Nachweis, daß im Ergebnis der enttäuschten Hoffnungen von 1815 und 1848 die in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts etablierten Romanmodelle gleichsam verewigt wurden, während gleichzeitig in England der soziale Roman von Höhepunkt zu Höhepunkt schritt. Erst nach der Reichseinigung von 1871 — dies die Ausgangsthese des Kapitels „Fontane und der englische Realismus“ — waren die politischen und sozialen Voraussetzungen für einen deutschen Romancier gegeben, der in realistisch gestalteter Umwelt die gesellschaftlichen und psychologischen Themen behandeln konnte, die bis dahin Privileg der englischen Autoren gewesen waren. Den Wert der von Fontane durchbrochenen deutschen Tradition sieht K. im letzten Kapitel darin, daß sie als Medium der Erfahrungen und Visionen isolierter Individuen der Dichtung des 20. Jahrhunderts den Weg gewiesen habe, deren Gegenstand in allen Ländern die Innere Erfahrung des Menschen einer in Bruchstücke auseinanderfallenden Gesellschaft sei.
Schon dieses Referat läßt erkennen, welche umfangreichen Themenkomplexe K. auf den knapp 230 Textseiten seines auf Beiträge in prominenten germanistischen Zeitschriften zurückgehenden Buches abhandelt. Dabei kann der Begriff „Abhandlung“ seine Darstellungsweise, die zwischen der Aufstellung sehr allgemeiner Thesen und dem gelegentlich fast mikrologischen positivistischen Vergleich einzelner Phänomene schwankt, nur sehr ungenau bezeichnen. Diese Darstellungsproblematik ist kein Zufall: die gestellte Aufgabe, mehr als 200 Jahre in der Entwicklung zweier großer Nationalliteraturen im Bereich eines für diesen Zeitraum so zentralen Genres zu erfassen und dabei natürlich immer auch die übergreifenden weltliterarischen Aspekte im Blick zu haben, mußte notwendigerweise zu starken Verkürzungen und Vereinfachungen 1 zwingen. Dieses Verfahren aber war angesichts des Grundphänomens, das K. in den Mittelpunkt rückt, von vornherein besonders risikoreich, ist doch die spezifische Besonderheit des deutschen Erzählens vor allem im 19. Jahrhundert nicht nur gegenüber dem englischen, sondern auch und fast noch deutlicher gegenüber dem französischen und russischen — wie Verf. eingangs und auch später betont — schon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts oft beobachtet und diskutiert worden. Weiterführende Ergebnisse sind hier nur zu gewinnen auf der Grundlage einer produktiven, aus dem gegebenen Forschungsstand ermittelten Zielstellung und überzeugenden Methode. Daß beides von K.
480