Heft 
(1984) 37
Seite
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müssen: Probleme dieser Art werden von K. jedoch an keiner Stelle wirklich erörtert und auf ihre Konsequenzen für das Realismusverständnis und die Wirkungsfunktion der Literatur befragt.

Unter diesem verengten Blickwinkel leidet nicht nur die gesamte Dar­stellung der deutschen Erzählentwicklung vor allem zwischen 1815 und 1848, für die nicht zufällig Stifter in repräsentative Stellung rückt, sondern auch die Wilhelm Raabes. Diese Optik aber prägt vor allem schon die Auswahl der Autoren, wobei jene, die sich intensiv und mit großem zeit­genössischen Erfolg um den Roman der gegenwärtigen Gesellschaft mühten, entweder völlig fehlen (Spielhagen) oder nur am Rande erwähnt werden (Gutzkow, Freytag). Die große Bedeutung, die Immermann in diesem Kontext zukommt, war so nicht zu erfassen, bezeichnenderweise findet man bei K. auch den Namen Sealsfleld nicht. Dieser Einseitigkeit und Verkür­zung des Literaturprozesses in Deutschland entspricht auf der Seite von Ks Darstellung der englischen Entwicklung die Tatsache, daß etwa George Meredith nicht an einer einzigen Stelle erwähnt wird. Ausgeklammert bleibt leider auch der umfangreiche und aussagekräftige Bereich der Mas­senliteratur, in dem im England der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine starke Wirkung deutscher Erfolgsautoren (nicht zuletzt solcher der Gartenlaube) registriert worden ist. Gerade hier wird offensichtlich, in welch geringem Maße K. auf dem in England wie in der deutschen For­schung erreichten Stand aufbaut, wobei jeweils eine Fülle aufschlußreicher Fakten über die tatsächlichen Rezeptionsvorgänge ermittelt wurde. Der generelle Vorwurf, die nicht unbeträchtliche neuere Literatur zum Thema, nicht nur zu den einzelnen Autoren, was in Grenzen'* noch begreiflich ist, sondern auch und gerade zu den deutsch-englischen Literaturbeziehungen 5 nur sporadisch zur Kenntnis genommen zu haben, kann dem Verf. nicht erspart bleiben.

Auf der gegebenen schmalen Argumentationsbasis bleibt es somit bei der Auflistung von Gegensätzen, Ähnlichkeiten und Unterschieden, beim Ver­gleich einzelner Autoren und Werke, der leider an keiner Stelle einmal zu einer geschlossenen, individuell vermittelten, gesellschaftliche Erfahrung differenziert einbringenden Analyse vertieft wird. Diese Methode punk­tueller und damit zufällig wirkender Vergleiche kulminiert in gewisser Weise im Kapitel über Fontane, dessen Gestaltungsweise mit der Scotts, Dickens und Thackerays, aber auch mit der George Eliots und Trollopes in Beziehung gebracht wird. Die vom Verf. selbst formulierte warnende Erkenntnis, daß vergleichbare Gesellschaftsstrukturen in gewissem Umfang auch ähnliche literarische Strukturen nach sich ziehen und deshalb bei der Registratur von möglichen Abhängigkeiten Vorsicht walten müsse (S. 157), bleibt dabei ohne wesentliche Konsequenzen. Im Gegenteil erlebt die gelegentlich fast zum Selbstzweck werdende Methode des Vergleichs im Fontane-Kapitel einen gewissen Höhepunkt, wenn eine Verwandschaft der Werke Fontanes und Trollopes schon deshalb plausibel gemacht werden soll, weil beide Autoren aus prosaischen bürgerlichen Berufen kamen und Väter hatten, die durch geschäftliche Mißerfolge und Eheprobleme belastet waren. Das Fehlen einer substantiellen, konzentrierten Argumentation wird hier umso stärker spürbar, als die Ausgangsthese einer sehr weitgehenden

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